Der langsame Walzer der Schildkroeten
einen neuen einzutauschen.
»Findest du das vielleicht komisch? Ich steh am Abgrund, und du machst Witze!«
»Ich mach keine Witze, ich bin beleidigt. Das hat mich ziemlich getroffen, Marcel. Und es liegt mir immer noch im Magen!«
»Schon gut, es tut mir leid! Zufrieden? Ich hab dich nicht gleich gefragt, und das war falsch. Verzeihst du mir jetzt?«
Marcels flehende Augen blickten angstvoll und verzweifelt. René stellte den Ordner zurück ins Regal und zögerte seine Antwort hinaus. Marcel trat nervös gegen die Tür und fragte immer wieder: »Was jetzt? Was? Soll ich mich vor dir auf die Knie werfen? Soll ich mich im Staub wälzen?« Er tänzelte vor Ungeduld, dass René ihm verzieh, aber René ließ sich Zeit. Sein bester Kumpel, immerhin! Seit dreißig Jahren hielten sie den Laden gemeinsam am Laufen, schlugen sich mit Schlitzaugen und Rothäuten rum, und dann heulte sich Marcel einfach woanders aus. Seit jenem Morgen lief er herum wie sieben Tage Regenwetter. Sogar sein Kaffee schlug ihm auf den Magen. Und Ginette! Er redete nicht mehr mit ihr, er bellte sie nur noch an. Er war verletzt, eifersüchtig. Er musterte seinen alten Freund.
»In meinem Leben geht alles schief, René. Ich war glücklich, so glücklich! Ich schwamm in Milch und Honig, das Glück war endlich zum Greifen nah, ich brauchte nur einen Finger danach auszustrecken, und der zitterte so stark, dass ich Angst hatte, Parkinson zu bekommen! Aber wenn ich jetzt sonntagmorgens aus dem Haus gehe, um Croissants zu holen, Croissants, die die Familie um den Tisch versammeln, bei denen allen das Wasser im Mund zusammenläuft, die den Gefühlen Nahrung geben, tja … da klettert sie auf einen Stuhl, um einen Kopfsprung auf den Bürgersteig zu machen. Ich kann nicht mehr!«
Marcel ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Stuhl fallen. Schlaff wie ein Sack Schmutzwäsche. Am Ende seiner Kräfte. Er atmete schwer.
»Hör auf damit!«, rief René. »Und hör mir gut zu, denn was ich dir jetzt erzähle, das habe ich noch nie jemandem erzählt, kapiert? Nicht mal Ginette. Niemandem, und wehe, du sagst auch nur ein Wort davon weiter!«
Marcel schüttelte den Kopf und versprach es.
»Da muss schon mehr her! Schwöre es beim Leben deines Kleinen und deiner Frau, sie sollen in der Hölle schmoren, wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen verrätst!«
Marcel lief ein Schauer über den Rücken, als er sich vorstellte, wie Junior und Josiane an Spießen über einem Höllenfeuer drehten. Er hob eine zitternde Hand und schwor. René schwieg kurz, nahm einen neuen Zahnstocher und hockte sich auf die Kante seines Schreibtischs.
»Und dass du mich ja nicht unterbrichst! Es ist schwer genug, die ganzen Bilder wieder zusammenzubringen! Also … Es ist schon lange her, ich wohnte damals mit meinem Vater im zwanzigsten Arrondissement, ich war noch ein kleiner Stöpsel, meine Mutter war gestorben, und ich war traurig wie ein Klavier ohne Tasten. Ich weinte nicht, wenn mein Vater dabei war, aber ich biss die ganze Zeit die Zähne zusammen. Es waren nur noch Zahnstummel übrig vom ständigen Zusammenbeißen. Wir hatten nicht viel Geld, er war Kaminkehrer, so hat er seinen Lebensunterhalt verdient. Und er musste einen Haufen Kamine kehren, damit wir abends ein Stück Fleisch in die Suppe werfen konnten. Kein Wunder, dass Zärtlichkeiten nicht so sein Ding waren, er hatte immer Angst, mich dreckig zu machen. Oder eine Frau dreckig zu machen. Er hat immer behauptet, das sei der Grund, warum er nicht wieder geheiratet hat, aber ich weiß, dass es aus lauter Kummer war. Und so saßen wir da wie zwei Jammergestalten, die beide in ihrer Ecke heulten, wortlos das Brot schnitten und schweigend ihre Suppe löffelten. Weil, meine Mutter, die war schon ’ne tolle Frau! Erste Sahne, eine Fee aus den blauen Bergen und ein Herz wie ein Bullerofen. Sie hatte genug Liebe für alle, die Leute im Viertel haben sie verehrt. Und als ich eines Tages aus der Schule komme, finde ich einen Raben. Einfach so, auf meinem Weg, wie soll ich sagen, es war, als würde er auf mich warten. Ich habe ihn mitgenommen und gezähmt. Er war nicht besonders schön, bisschen zerzaust, aber er hatte einen langen, gelben Schnabel, so gelb, als hätte ihn jemand angemalt. Und an den Federspitzen hatte er blaue und grüne Flecken, die einen Fächer bildeten.«
»Aber er war nicht zufällig ein Pfau?«
»Ich hab dir gesagt, unterbrich mich nicht, sonst ist gleich Schluss. Solche Bilder tun weh. Ich habe ihn
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