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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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gezähmt und ihm beigebracht ›Éva‹ zu sagen. Éva, das war der Vorname meiner Mutter. Mein Vater fand sie so schön, dass er sie Éva Gardner nannte. ›Éva, Éva, Éva‹, sagte ich ihm vor, sobald ich mit ihm alleine war. Irgendwann hat er dann tatsächlich ›Éva‹ gesagt, und ich war außer mir vor Glück. Ich schwör dir, das war, als wäre meine Mutter zurückgekommen. Er schlief oben auf meinem Bettpfosten, und abends, ehe ich einschlief, krächzte er ›Éva, Éva‹, und ich strahlte. Ich ratzte wie ein Engelchen. Ich war nie mehr traurig. Er hatte den Kummer vertrieben und mein Herz sauber gekehrt. Mein Vater wusste nichts davon, aber auch er hatte wieder angefangen zu pfeifen. Morgens nahm er seine Stange, seinen Eimer und seine Lappen und ging pfeifend zur Arbeit. Er trank nur noch Wasser. Kaminkehrer haben ständig Durst, musst du wissen! Sie fressen den ganzen Tag Kohle, die müssen sie runterspülen. Und er nahm dazu jetzt Wasser. Klares, reines Wasser! Ich sagte kein Wort dazu, ich sah nur den Raben an, der vor ihm keinen Mucks von sich gab, und ich schwör dir, er guckte zurück, als wollte er … wie soll ich sagen … als wollte er sagen: Ich bin da, ich pass auf euch auf, alles wird gut. Das ging eine ganze Weile so, wir pfiffen und pfiffen vor uns hin, und dann … wurde er überfahren. So’n Besoffener ist einfach über ihn drübergefahren. Er war platt wie eine Tortilla, nur sein langer knallgelber Schnabel war noch ganz. Ich hab geheult und geheult, der Amazonas war ein Rinnsal gegen mich! Mein Vater und ich haben ihn in eine Schachtel gelegt und ihn heimlich in dem kleinen Park bei uns um die Ecke begraben. Es verging eine Weile, und irgendwann wache ich in einer stockfinsteren Nacht von einem Geräusch an meinem Fenster auf. Als klopfte jemand mit einem Schlüssel dagegen. Ich sehe nach, und da sitzt mein Rabe, der gleiche knallgelbe Schnabel, die gleichen grünen und blauen Federspitzen. Er krächzte ›Éva, Éva‹, und glaub mir meine Augen waren so groß wie Untertassen. ›Éva, Éva‹, wiederholte er und klopfte gegen die Scheibe. Ich habe ihn so deutlich vor mir, gesehen, wie ich jetzt dich sehe. Mein Rabe. Ich hab das Licht angemacht, um sicherzugehen, dass ich nicht träume, und hab ihn reingelassen. Von da an ist er jeden Abend wiedergekommen. Sobald es dunkel wurde. Bis ich irgendwann groß war und zum ersten Mal ein Mädchen flachgelegt habe. Wahrscheinlich hat er gedacht, ich brauch ihn nicht mehr, und ist weggegangen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie traurig ich war! Ich hab das Mädchen nie wiedergesehen, und es hat lange gedauert, bis ich wieder eine angerührt hab, weil ich immer dachte, vielleicht kommt er ja doch zurück. Aber er ist nie mehr zurückgekommen. So, das war meine Gespenstergeschichte. Und damit will ich nur sagen, wenn Raben zurückkommen und mir die Zärtlichkeit einer Mutter schenken können, dann funktioniert das auch mit dem Teufel und allem Bösen der Hölle …«
    Marcel hatte mit offenem Mund zugehört. Renés Geschichte hatte ihn so sehr aufgewühlt, dass er nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Er verspürte den Drang, seinen alten Freund in die Arme zu nehmen und fest an sich zu drücken. Er streckte die Hand aus, strich René flüchtig übers Gesicht und spürte den kratzigen Bart unter seinen Fingern.
    »Oh, René, das ist so schön!«, sagte er mit einem Schluchzen in der Stimme.
    »Ich hab’s dir nicht erzählt, damit du hier anfängst zu flennen! Nur um dir zu zeigen, dass es Sachen im Leben gibt, die man nicht kapiert, Sachen, die weder Hand noch Fuß haben und die trotzdem passieren. Also, dass da irgendwas Übersinnliches mit deiner Josiane ’ne ganz linke Tour fährt, glaub ich dir gern, aber ich will nicht darüber reden …«
    »Warum denn nicht? Willst du mir nicht helfen?«
    »Ist ja nicht so, dass ich nicht will. Aber wie soll ich das denn anstellen? Ich hab keinen blassen Schimmer. Es sei denn, ich rufe den Raben zurück oder beschwöre den Geist meiner Mutter! Denn die ist nie zurückgekommen. Sie hat mir den Raben geschickt, und danach hat sie mich hängen lassen.«
    »Das weißt du doch gar nicht … Vielleicht war sie es, die dir Ginette geschickt hat … Und das ist doch allemal besser als ein alter Rabe!«
    »Mach dich nicht lustig über meinen Raben!«
    »Sie hat dir Ginette geschickt … und die Kinder. Nur Glück! Und sie hat dir auch mich geschickt.«
    »Da hast du recht. Das ist nicht nix … Weißt du

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