Der langsame Walzer der Schildkroeten
was? Wir sollten aufhören, darüber zu reden, sonst fang ich gleich auch noch an zu flennen! Dann wird mein Herz ganz matschig.«
»Und dann sitzen wir da wie zwei Trottel und heulen im Chor«, ergänzte Marcel.
Sein gequältes Gesicht hellte sich auf, und zum ersten Mal seit Langem lächelte er wieder.
»Aber du hilfst mir doch, eine Lösung zu finden, nicht wahr, René? Ich kann so nicht weitermachen. Die ganze Firma steht auf dem Spiel. Ich bin völlig neben der Spur …«
»Ist mir auch schon aufgefallen, dass du nicht mehr bei der Sache bist, und das geht mir auch an die Nieren.«
Er nahm einen neuen Zahnstocher und warf den alten in den Mülleimer. Marcel beugte sich vor und sah, dass der Boden des Eimers mit zahllosen kleinen Holzstäbchen bedeckt war.
Er schaute zu René auf, und dieser seufzte.
»Das geht so, seit ich aufgehört habe zu rauchen. Früher hab ich ein Päckchen am Tag weggequalmt, und jetzt verbrauch ich ein Paket Zahnstocher. So hat jeder seins! Andere lassen sich mit den Dingern piercen …«
Kein Lächeln zauberte auch nur das geringste Fältchen in Marcels stumpfes Gesicht.
»Du bist echt ’n Lahmarsch! Seit wann kapierst du meine Witze nicht mehr? Mann, mit dir geht’s bergab! Als Piercing, wie bei ’ner Akupunktur, die langen Nadeln, die sie einem in die Fußsohlen stecken und …«
»Die Fußsohlen!«, brüllte Marcel und schlug sich gegen die Stirn. »Aber natürlich. Bin ich bescheuert! Aber so was von bescheuert! Ich hätte auf Madame Suzanne hören sollen … Sie kann uns helfen!«
»Die im Trüben rumfischt und eure Quanten jubilieren lässt?«
»Höchstpersönlich. Sie hat mir mal gesagt, dass Josiane ›mit einem Fluch belegt‹ sei. Sie hat gesagt, dass wir den Ursprung des Bösen identifizieren müssten, um es zu neutralisieren, sie hat eine Menge Zeugs geredet, das ich nicht verstanden habe, René, mein Guter. Ich kenn mich mit Zahlen aus, mit Marktanteilen, mit Steuern, mit Gewinnen und mit Grenzen, aber doch nicht mit Hexen …«
»Dann hör mir jetzt mal gut zu … Ich sag dir, was wir tun werden …«
Und an diesem Tag schmiedeten Marcel und René in dem kleinen Büro am Lagertor einen Plan, um Josianes Seele von allem Bösen zu erlösen.
Joséphine lief und lief und lief. Unverdrossen. Seit acht Uhr morgens. Sie spielte die unbekümmerte Touristin, die ziellos durch die Straßen schlendert und die Stadt erkundet. Dabei lief sie beharrlich immer wieder das gleiche Karree ab: Holland Park Avenue, Portland Road, Ladbroke Road, Clarendon Road, wieder zurück zur Holland Park Avenue und auf zur nächsten Runde.
Während der Nacht hatte es geregnet, und das Tageslicht zitterte in der Feuchtigkeit, die von den Bürgersteigen aufstieg, ehe sie sich in den Strahlen der Morgensonne golden färbte. Sie beobachtete die Tische vor dem Ladbroke Arms. In diesem Pub frühstückte Philippe Shirley zufolge jeden Morgen. Na ja … letztes Mal, als wir uns gesehen haben, habe ich ihn da getroffen. Er saß da mit seinem Kaffee, seinem Orangensaft und seinen Zeitungen. Aber ob er wirklich jeden Morgen da ist, weiß ich nicht … Geh doch einfach hin. Lauf durch die Gegend, bis du ihn siehst, und dann sag Hallo …
Und genau das hatte sie jetzt vor. In seinen Augen zu lesen. Ihn zu überraschen, bevor er Gelegenheit hatte, eine Lüge hineinzuschreiben. Sie dachte seit mehreren Nächten über eine passende Strategie nach. Letzten Endes hatte sie die einfachste gewählt: das zufällige Treffen. Ich bin gerade in London, auf Einladung meines Verlegers, mein Hotel ist gleich um die Ecke, bei dem schönen Wetter bin ich früh aufgestanden und spazieren gegangen und … was für eine Überraschung! Was für ein Zufall! Welch glückliche Fügung! Da treffe ich dich. Wie geht es dir?
Die Überraschung. Sie vorzutäuschen war der schwierigste Teil. Vor allem, wenn man seine Antworten so lange einstudiert hat, dass man ins Stottern kommt! Schwierig, da noch natürlich zu wirken. Ich wäre eine miserable Schauspielerin.
Sie lief und lief durch das elegante Viertel. Stattliche weiße Häuser mit hohen Fenstern, kleine Rasenflächen vor den Außentreppen, Rosenstöcke, Glyzinien, blühende Büsche. Manche Fassaden waren himmelblau, giftgrün, quietschgelb oder grellrosa gestrichen, als wollten sie sich von der allzu braven Nachbarin absetzen. Das Viertel wirkte steif und charmant zugleich, genau wie die Engländer selbst. Ein Eckhaus beherbergte eine Nicolas-Weinhandlung. Ein Stück
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