Der langsame Walzer der Schildkroeten
so lief sie im Kreis und lief und lief. Halb neun und kein Mann in Sicht. Das war doch Irrsinn. Er würde ihr niemals glauben. Sie würde rot werden, den Stuhl umwerfen, schwitzen und hätte fettiges Haar. Er küsste so gut. Langsam, zärtlich, dann nicht mehr so zärtlich … Und der Klang seiner Stimme, wenn er beim Küssen redete! Es war so verstörend, diese mit Küssen vermischten Worte, sie jagten ihr Schauer von den Ohren bis in die Zehen. Antoine hatte nie geredet, wenn er sie küsste, und Luca auch nicht. Sie hatten nie gesagt »Joséphine! Sei endlich still!«, ihr einen Befehl erteilt, der sie an der Grenze eines unbekannten Landes erstarren ließ. Sie blieb vor einem Schaufenster stehen, um ihr Spiegelbild zu prüfen. Der Kragen ihrer weißen Bluse war umgeknickt, sie richtete ihn wieder auf. Sie rieb sich die Nase und sprach sich Mut zu. Na los, Jo, du schaffst das!
Sie setzte zu einer weiteren Runde an. Warum will ich es unbedingt erzwingen? Ich sollte es lieber dem Zufall überlassen. Papa, sag mir, soll ich hingehen oder nicht? Gib mir ein Zeichen. Wenn du dich jetzt nicht bemerkbar machst, wann dann? Komm herunter von deinen Sternen und hilf mir.
Sie blieb vor einer Parfümerie stehen. Sollte sie ein Parfüm kaufen? »Eau des merveilles« von Hermès. Ein betörender Duft. Sie sprühte ihn auf ihren Hals, auf die Glühbirnen, vor dem Einschlafen auf ihre Handgelenke. Sie sah auf die Öffnungszeiten: Der Laden öffnete erst um zehn.
Sie nahm ihren Marsch wieder auf.
Und da hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf, die sagte: »Lass mich nur machen, meine Kleine, ich kümmere mich um alles.« Sie erschauerte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie wurde verrückt. »Geh weiter, als wäre nichts!« Sie machte einen Schritt, zwei Schritte, sah sich um. Niemand sprach mit ihr.
»Los, los! Geh einfach weiter, ich regle das schon, vertrau mir. Das Leben ist ein Tanz. Man braucht bloß einen Tanzlehrer. Wie im Bürger als Edelmann. «
»Mochtest du dieses Stück, Papa?«
»Ich liebte es! Diese burleske Kritik am aufgeblasenen Bürgertum! Ich dachte dabei immer an deine Mutter. Das war meine Rache an ihrem kleinlichen, angepassten Geist.«
»Das wusste ich ja gar nicht!«
»Ich sagte dir ja auch nicht alles, manche Dinge erzählt man Kindern nicht. Ich weiß nicht, wieso ich deine Mutter geheiratet habe. Ich habe es mich immer wieder gefragt. Ein Moment der Unaufmerksamkeit. Sie hat es, glaube ich, auch nie verstanden. Die Vereinigung von Karpfen und Kaninchen. Wahrscheinlich dachte sie, ich würde irgendwann reich werden. Das ist das Einzige, was sie interessiert. Na los, geh schon! Geh weiter …«
»Hältst du das für eine gute Idee? Ich habe Angst …«
»Es wird Zeit, dass du endlich mutiger wirst, Kind! Dieser Mann ist für dich geschaffen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Er hat auch nicht die richtige Frau gewählt. Dich hätte er heiraten sollen!«
»Papa! Du übertreibst!«
»Ganz und gar nicht! Kauf dir eine Zeitung, das macht mehr Eindruck …«
Sie blieb am Kiosk neben der U-Bahn-Station stehen und kaufte eine Zeitung.
»Halt dich gerade, du läufst ja ganz krumm.«
Sie richtete sich auf und klemmte sich die Zeitung unter den Arm.
»Langsam, langsam. Noch langsamer. Mach dich bereit, er ist da.«
»Ich habe Angst!«
»Nicht doch … alles wird gut gehen, aber wenn du hinausgehst, mein Engel, das Herz trunken vor Glück, dann achte im Dunkel auf die tückische Orange.«
»Was ist das? Ein Zitat?«
»Nein. Eine Warnung! Vielfältig anwendbar.«
Sie stand nur noch ein paar Meter vor der Terrasse.
Und dann entdeckte sie ihn. Er saß mit dem Rücken zu ihr an einem Tisch. Breitete seine Zeitungen aus, legte sein Handy auf den Tisch, rief den Kellner, bestellte, schlug die Beine übereinander und begann zu lesen. Es war wunderbar, ihn so heimlich zu betrachten, von seinem Rücken das Ende seiner Nacht, den Beginn des Tages abzulesen, den kurzen Sprung unter die Dusche, den Kuss für das Kind, bevor es zur Schule geht, den wachsenden Appetit angesichts der Eier mit Speck, des Espressos und der Aussicht auf einen neuen Tag. Wehrlos lieferte er sich ihr aus. Sie entzifferte seinen Rücken. Sie schenkte ihm ihre Träume, wärmte ihn mit ihren Küssen, und er gab sich ihr hin. Sie streckte die Hand nach ihm aus und streichelte ihn.
Sie wusste jetzt, dass er keiner anderen gehörte. Sie konnte es an dem Arm ablesen, der sich streckte, um die Seite umzublättern, an der Hand, die
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