Der Lavagaenger
Das letzte Dörrfleisch war gegessen, die letzte Kokosnuss geleert und das letzte wassergefüllte Bambusrohr angebrochen.
Da verkündete Hans Kaspar, es sei höchste Zeit, den Fregattvogel des Iwi-Häuptlings zu verspeisen.
Malinowski nickte heftig und roch schon den Duft gebratenen Geflügels.
Keola jedoch widersprach zum Erstaunen der anderen. Ja, er befreite den Vogel sogar von der Schnur, die ihn ans Deck band, nachdem er ihm wie einer Brieftaube einen Zettel am Fuß befestigt hatte.
Heftig schlug sich Malinowski an die Stirn. Siyakuu kicherte, zu etwas anderem war sie zu schwach. Auf ihrer Haut bildeten sich Blasen. Hans Kaspar versuchte noch einen Hechtsprung nach dem entfliegenden Braten. Dann krallten sich seine Hände in Ermangelung des Federviehs in Keolas wolligen Schopf und dessen Finger wiederum um Hans Kaspars dürren Hals.
Es dauerte einige Zeit, bis Siyakuus mattes
Hört auf!
den Verstand der Kämpfenden reaktiviert hatte und sie voneinander ließen.
Da, so berichtete der Einbeinige, hätte er seinen Entschluss gefasst. Schließlich sei er der Navigator gewesen. Und ein Navigator sei verantwortlich für alle, die ihm an Bord anvertraut sind.
XXIV
Henri Helder war in den Sternenhimmel vertieft und suchte das Kreuz des Südens, das über so vielen romantischen oder abenteuerlichen Romanhandlungen prangte. Als er später, während der Überfahrt zur Verbotenen Insel, den Einbeinigen danach fragte, lachte der und sagte: Das Kreuz des Südens? Das werden Sie hier vergeblich suchen, wir befinden uns nördlich des Äquators.
Seltsam, Helder, Hawaii,
das
Südseeparadies, im Norden? So verschoben (und verschroben) sind also die Koordinaten unserer Träume.
Noch suchte Helder, der astronomische Laie, den Himmel ab. Gut getarnte Geheimnisse. Das Universum sichtbar – drei Prozent. Das Gehirn (Einsteins) genutzt – zu sieben Prozent (behauptete er). Wie kommt es, dass wir glauben, Utopia niemals entdecken zu können?
Helder, ach, Helder. Also doch dem Auftrag des Großen Spitzbarts noch nicht abgeschworen: die Weltfriedensformel. Ist es das, was du suchst am Himmel? Oder suchst du jetzt ein kleineres, vielleicht menschlicheres Ziel? Etwas, das man unbedingt im Leben tun, noch tun möchte, bevor …
Helder dachte an Rositas Himmel, dachte an Marions Taj Mahal, dachte an den Mann im Postwagen. Liebe? Freiheit?
Marion und der Mann im Postwagen: zwei Chancen, in die Freiheit zu gelangen. Was, wird Helder immer betonen, nicht die des sogenannten Westens meint. Auch dort stünden die Mauern aus Angst und Bequemlichkeit. Mauern, die stärker seien als Ostbeton.
War die Verbotene Insel die dritte Chance? Das Tabu?Kalākauas Vorgänger auf dem hawaiischen Thron hat die Insel im Jahr 1864 verkauft, seither ist das Eiland Privateigentum einer schottischen Familie. Mrs. Crusoe, so wird Helder erfahren, sei eine Dame von achtzig Jahren, mit einem Faible für die polynesische Kultur. Nein, meinen hingegen Spötter mit Lust am ethnologischen Experiment. An die zweihundertfünfzig
reinblütige
Hawaiianer, hieß es, lebten auf dieser Insel wie zu Zeiten Cooks: Kein Strom, kein Telefon, kein Radio … fernsehen, nur übers Meer. Refugium einer um Haaresbreite untergegangenen Kultur. Oder Menschenzoo?
Helder mochte die Frage nicht entscheiden. Obwohl … Ein wenig fühlte er sich an eine untergegangene Republik im Osten Deutschlands erinnert. Also doch Menschenzoo. Füttern verboten, keine Kontakte von und nach außen. Wer die Verbotene Insel verlässt,
das
dürfen ihre Bewohner immerhin, darf nicht zurückkehren. Infektionsgefahr: Grippe, Aids, Coca-Cola …
Es war einmal eine Zeit, da wollte Helders Mutter keine Pakete mehr.
Nicht von dort und nicht von
dem
! Nicht für Rosa, nicht fürs Röschen!
Aber Rosa, Mädchen, es ist dein Bruder, sagte Oma Henriette.
Halb, flüsterte Tante Erdmuthe. Äh …, haste nicht mal, korrigierte sie sich, einen HalbundHalb?
Das erste Halb galt dem Bruder Rosas, der nur ihr Halbbruder war. Da aber dieses Halbige für Henri unentdeckt bleiben sollte, verwandelte es Erdmuthe in einen Likör. Wer Sorgen hat …
Die Sorgen waren von einem Gerücht aufgebracht worden. Es ging um in Krahnsdorf-Brandt, seit Onkel Willi vorgefahren war im Benz. Seit schwere Autotüren geklappt hatten vor der Bahnhofswirtschaft und mit demeinstmals kleinen Willi etwas Großes eingetreten war in die Gaststube, eine strahlende Aura inmitten Müffelgrau, ein Duft, so groß und weit und hanseatisch
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