Der Lavagaenger
welterfahren, wie die Zigarettenmarke, deren frisch geöffnete Schachtel auf dem Sprelacart zwischen bestrichelten Bierdeckeln, halb vollen (und halb leeren) Biergläsern landete, direkt neben dem kippenquellenden Ascher mit dem Ausweis: Stammtisch.
Ah, der West-Willi ist wieder da.
Das isser. – Hier! Bedient euch!
Da langten alle zu. Nur einer nicht. Und die Hände der anderen zuckten zurück, als dieser eine knurrte:
Vom Blutgeld rauch ich nicht!
Mensch, Karwenzel, was soll denn das, murrten die Münder der anderen und wollten so den Händen helfen, den duftenden Tabak zu den Lippen zu führen. Streichhölzer flammten, und ein tiefes Inhalieren breitete einen Moment der Glückseligkeit aus.
Der Karwenzel blieb stur. Ruumsch, zurück mit dem Stuhl. Aufgestanden und raus über die Dielen, bang, bang, bang. Krach, zu die Tür. Hinter ihm.
So soll es gewesen sein. Weil der Karwenzel im Lager war, weil er Sturmabteilung gewesen war, weil er den Polen, der in Brüggs Schuppen hockte, gemeldet haben soll. Und damit auch dessen Verstecker, den Hans Kaspar Brügg.
Den Brügg gemeldet also aus nationaler Überzeugung, hieß es. Und aus Rache, sagte man, weil der Brügg sich Karwenzels Revolution gegen Mendel verweigert hatte, damals 1933. Dazu, so wussten einige, hat dem gestunken, dass sein Stiefsohn Bertram sich an Brüggs Tochter Rosa rangemacht hat.
Karwenzel hatte ausgesagt, schon lange mit dem Aloch Hitler fertig gewesen zu sein, weil der die Nationale Revolution verraten … und so weiter. Aber man kann trotzdem keine Gleise sabotieren. Wie der Polack. Das ist Terror. Undich hätt den Polack selbsthändig aus dem Schuppen gezerrt und den Brügg noch dazu ausm Bett, aber …
Aber was, Herr Karwenzel?
Aber, ich habe es nicht gewusst!
Was Karwenzel allerdings zu wissen glaubte, war, dass Brüggs Sohn, Willi, ihn, den Karwenzel, bei der Kommandantur verzinkt habe, damals, fünfundvierzig. Und dem hat der Bertram – man denke, der leibhaftige Stiefsohn! –, der Bertram also das eingeredet, da war sich Karwenzel sicher. Nur, weil er, Karwenzel, die Lore, also Bertrams Mutter, mal verprügelt hatte.
Die Geschichte hatte in diesen Jahren wieder einmal neu sortiert in Gerechte und Ungerechte. So blieb, wie oft in solchen Zeiten, das Dazwischenliegende ebenso unausgesprochen wie die familiären Feinheiten.
So rollte das Wort vom Blutgeld unkommentiert, wie ein Markstück ohne Groschen und Pfennig, aus der Bahnhofskneipe in den Ort. Es hopste über Katzenköpfe, Grasstreifen, Kleinpflaster und Sandwege, bis es auf dem Linoleum des Dorfkonsums liegen blieb. Nicht lange, denn da war es schon zum Gerücht geworden und kroch, wie sein Klangverwandter, der Geruch, in Nasen, den Leuten in die Ohren.
Einige wenige, die meinten, man dürfe einem bekennenden Nationalsozialisten nicht alles anhängen, wurden gelegentlich ihrer flüsternden Solidaritätsbekundungen von Karwenzel selbst um Schweigen gebeten. Denn: Ärger hätte er bereits genug gehabt.
So kam es, auch weil es sich zu der Zeit besser erzählte, dass vom Konsum die Nachricht ausging, der West-Willi habe den Polen und den Brügg verpfiffen – denk dir, den eigenen Vater!
Rosa hatte das Gerücht eines Tages mit Mehl und Waschpulver nach Hause getragen. Für sie war es endlich eine Antwort auf ihre nie ausgesprochene Frage: Warum hat derVater mich – mich, seine Rosa! – verlassen? War ich nicht sein Goldkäferchen, sein Spatzenschnäbelchen, sein Hühnergackerchen …?
Er hat müssen, Kind.
Müssen
ist kein Grund für ein Kind. Ein Schuldiger, das ist endlich einer. Auch für die längst erwachsene Rosa noch.
Doch der Schuldigbefundene, der Willi, war da längst wieder jenseits der Grenze. Wieder …
Klar, trompetet Rosa, dass der rüber ist. Willis Flucht im Juni 1953 erschien ihr jetzt in einem anderen Licht. Man war ihm auf die Schliche gekommen. Also rüber. Unerreichbar für Strafe. Vielleicht aber doch noch zu treffen, wenigstens moralisch: Fortan wurden Willis eingeschnürte Zuwendungen von Rosa ignoriert.
Das war das Ende auch der Sticksonntage. Wie? Der Willi? Ja, und wenn. Ein Pimpf, ein unreifer. Das Unverständnis der alten Schwestern für Rosas Empörung war so ganz-, wie ihre Klärungsversuche halbherzig. Halb konnte man, halb wollte man nicht reden. HalbundHalb eben, süßer Sorgenlikör mit einer bitteren Nuance, statt einer Wahrheit, die vielleicht bitterer noch war.
Rosas Lektüre wechselte von Paketinhaltsverzeichnissen zu roten
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