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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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eingegangen war, wurde das Wrack der
Rutas
entdeckt.
    Allgemeines Entsetzen herrschte an Bord, als man aus dem Kanu nicht nur drei abgemagerte, aber noch lebende Menschen barg, sondern auch einen großen Knochen, den der Schiffsarzt eindeutig klassifizierte: Der stammt von einem Menschen.
     
    So hatte es Helder bereits im
Hawaiian Observer
berichtet gefunden. Da dem Blatt weitere Erkenntnisse über die Ereignisse an Bord fehlten, zog es eine historische Parallele:
    Im November 1820 rammte ein riesiger Pottwal den Walfänger
Essex
. Das Schiff versank, und die Mannschaft rettete sich in die Beiboote. Man verzichtete darauf, eine der nahe gelegenen Inseln anzusteuern. Man fürchtete sichvor Menschenfressern. So nahm man Kurs auf die amerikanische Küste. Viele verhungerten auf der dreitausend Seemeilen langen Reise. Die Toten wurden aufgegessen. Schließlich begannen die Überlebenden, die nächste Mahlzeit unter sich auszulosen.
    Der Einbeinige hatte, als sie später das Kanu zur Verbotenen Insel bestiegen, behauptet, an Bord der
Rutas
gewesen zu sein. Allerdings fehle ihm die Erinnerung an Details, er sei erst wieder am Strand dieser Insel neben einem Pottwal erwacht.
    Als das Kanu ohne Segel über den Pazifik getrieben und keiner von den vier Schiffbrüchigen in der Lage gewesen sei, die Tage ohne Nahrung zu zählen, habe er zu singen begonnen. Wahrscheinlich, so sagte der Einbeinige, glaubten die anderen, der Hunger hätte mir den Verstand geraubt.
    Lass uns auf die Dunkelheit warten, sagte der Einbeinige und begann einen monotonen Singsang, so wie er damals gesungen hatte. Er sang die Lieder seiner Väter. Er beschwor seinen Vater, und er beschwor dessen Vater und seines Vaters Vater bis hin zu Palaoa, dem ersten Navigator.
    Helder schloss unwillkürlich die Augen und sah, was der Einbeinige wiedersah: Maui, der Heros, erschien und reichte ihm ein Messer.
    Helder hörte Siyakuu schreien. Er sah, wie Hans Kaspar aufsprang und wie Malinowski ihn zurückhielt.
    Alle starrten auf Keola, der plötzlich ein Messer in der erhobenen Hand hielt. Dann, ganz ruhig, setzte er das blitzende Metall auf die nackte Haut seines linken Oberschenkels. Schnitt für Schnitt, als wäre es Brot, durchtrennte die Klinge Haut, Muskeln, Sehnen und Knochen so leicht, wie es nur in einem Traum geschehen kann.
    Kein Laut drang an Helders Ohr. Nicht einen Tropfen Blut sah er aus Keolas Körper rinnen. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkte entspannt und zugleich hochkonzentriert, ohne eine einzige Regung des Schmerzes. Eswar, als hätte er, bevor er das Messer ansetzte, sich bereits von seinem Bein getrennt.
    Da lag das Bein auf der Pandanussmatte. Die Farben verblassten in weißem Licht. Nur das Rot einiger Blutstropfen, die jetzt langsam aus der Wunde quollen. Helder hörte aus der Ferne der Erzählung, was der Einbeinige wie in Trance wiederholte, die Formel der Hingabe, so absolut wie grotesk: Trinkt, denn das ist mein Blut. Esst, denn das ist mein Fleisch!
    Das Blut rann durch das Flechtwerk am Holzgestänge herab und tropfte ins Meer.
    Die Haie kamen. Sie umkreisten das Kanu, bis einer, vom Geruch des Blutes getrieben, seinen Schädel von unten gegen das Deck rammte. Ein zweiter schnellte aus dem Wasser und warf seinen schweren Leib auf einen der Rümpfe. Ein dritter schließlich schlug seine mächtigen Kiefer in einen der Ausleger. Splitternd brach das Holz. Das Deck neigte sich, und Keola, noch immer in Trance, rollte ins Meer. Im selben Moment hob sich ein riesiger, hell glänzender Körper direkt neben dem Kanu aus dem Wasser, senkte sich sogleich wieder und tauchte unter dem Kanu hindurch, wobei seine Haut deutlich vernehmbar an den Bootsrümpfen scharrte. Dann war alles still. Keola war verschwunden. Auch die Haie.
    Helder glaubte den riesigen weißen Wal zwischen den Wellen zu sehen. Sah, wie sich Moby Dicks Wiedergänger rasch entfernte und eine schäumende Spur hinterließ.
    Es ist so weit, sagte der Einbeinige, und Helder wusste nicht, hatte er eben geträumt oder der Erzählung des Polynesiers gelauscht.
    Mich, sagte der jetzt, hat ein Walfisch gerettet. Es muss so gewesen sein. Denn als ich zu mir kam, lag ich am Strand der Verbotenen Insel. Neben mir der Wal. In seinem Rücken stak nicht nur eine abgebrochene Harpune. An einer von ihnen werde ich mich wohl festgeklammert haben.
    Die Leute aus dem Dorf haben mich erst in eine Hütte geschleppt, dann haben sie mit Seilen und Stangen versucht, den Wal wieder ins Wasser

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