Der Lavagaenger
Pantinen schlüpfte, als habe sich da bereits ein Fremder seiner Schuhe entledigt, als erwarte ihn in seiner Stube ein unbekannter Gast. Ja, es enttäuschte ihn beinahe, Couch und Sessel leer zu finden.
Es geschah aber auch, dass er beim Nachhausekommen die alten Treter mit dem Fuß beiseitestieß wie eine lästige Erinnerung. An solch einem Tag muss es gewesen sein, da packte er entschlossen diese unnützen Erbstücke, trug sie hinaus und stopfte sie in die Mülltonne.
Als Helder am nächsten Morgen das Haus verließ, wäre er fast über die Schuhe gestolpert. Auf ein Stück abgerissenen Karton hatte jemand geschrieben: Solche Schuhe gehören in die Altkleidersammlung! Helder fluchte. Da war unter den Müllmännern bestimmt so ein linker Akademiker, der seine sozialromantischen Neigungen auslebte. Er würde sich bei der Stadt beschweren. Wieder lagen die Treter tagelang im Flur herum. Eines Abends dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen, überwandseinen Fußpilzekel und probierte die Schuhe an. Sie passten. Perfekt.
Trotzdem, überlegte Helder, was soll ich mit den Dingern. Überhaupt, einem Eisenbahner ein Paar Schuhe zu vermachen, das war schon fast ein Affront. Sicher, jedermann, der in einem Zug reiste oder Dienst tat, trug Schuhe; zumindest hierzulande war das so. Darum ging es nicht. Es war wie ein glücklos ausgewähltes Geschenk, mehr noch als das: Es war absolut unpassend.
Wer schenkt schon einem Fleischermeister ein vegetarisches Kochbuch? Niemand tut das, denn damit würde man seine gesamte Existenz in Frage stellen. Und nun ein Paar Schuhe für ihn. Das war sozusagen die reaktionäre Kritik am Eisenbahnerstand. Die sich fortschrittlich gebärdende setzte auf Autos. Straße statt Schiene, Freiheit statt Ordnung, Individualität statt Gruppenfahrschein, Feldrandpinkeln statt Abteiltoilette.
Aber was war das für eine Freiheit, das ertrug doch niemand. Wie von selbst suchten die Menschen das Erlebnis von Gemeinschaft: der Stau – die überwundene
Einsamkeit im Blechgehäuse
. Die langen Autokolonnen, nichts anderes als die hilflose Imitation eines Reisezuges, Wagen an Wagen. Nur dieser Zug
steht
. Bestenfalls Schritttempo. Die Frage nach dem Stau, das ist die Frage nach dem kollektiven Abenteuer, dem Erlebnis, das verbindet. Das also konnte Helder noch verstehen.
Ein Auto, gut. Aber Schuhe? Was sollte das? Das hieß doch: Ha, du und deine Eisenbahn, völlig überflüssig. Autos, Flugzeuge, Bahnen, alles das Gleiche. Massenverkehrsmittel, das klingt wie … wie Massenmord. Lieber zu Fuß. Das ist human! Zu Fuß kommt man doch viel besser voran!
Lieber Opa, du hattest wohl noch nie Blasen an den Füßen?! Zu Fuß! Vielleicht noch wandern!?
Wandern, das war Susannes Leidenschaft. Sie hielt sich für einen Naturfreund, Naturfreundin, denn selbstverständlichbestand sie auf der femininen Endung. Sie konnte sich im Wald urplötzlich auf den Bauch werfen, wie ein Muslim beim Ruf des Muezzins.
Ist da was?
Na, siehst du nicht?!
Was soll ich sehen?
Sieh doch mal hin.
Ich sehe nichts.
Du siehst auch nie was.
Und was bitte soll ich sehen?
Na da, das Veilchen!
Soso, ein Veilchen. Es konnte auch eine Raupe sein oder ein bunter Kieselstein. Naturfreund
in
. Aber zu Hause einen Schreikrampf kriegen, wenn sich über ihrem Bett eine Spinne abseilte.
Erst hatte er Rad fahren müssen, sollte er nun auch noch wandern? Als er vierzig wurde, hatte die Verwandtschaft auf Susannes Initiative hin zusammengelegt und ihm ein Sportrad geschenkt. Er hatte sich keines gewünscht.
Gegen den Bürobauch, hatte Susanne gesagt.
Sicher, da gab es hinterm Hosenbund eine kleine Wölbung. Das war aber eine Sache der Schwerkraft. Wenn man den ganzen Tag saß, dann rutschte die Körpermasse langsam nach unten, sammelte sich zwischen Nabel und Schambein und beulte die Bauchdecke aus, ein durch und durch natürlicher Vorgang. Und sie nannte das Bürobauch.
Also hatte er sich aufs Fahrrad geschwungen. Das war gegen seine Natur, aber es hatte einen Vorteil, man hatte keinen Beifahrer, genauer, keine Beifahrerin: Nicht doch so schnell … fahr doch nicht so dicht auf … das war jetzt Rot …
Helder fuhr allein. Da war so viel Blau am Straßenrand. Kornblumen? Klatschmohn? Nein, Mohn war rot. Also Kornblumen. Kornblumenblau. Aus der Ferne der Erinnerunghallte leise ein Schlager. Sie tanzten. Auf ihrer Oberlippe perlten kleine Schweißtröpfchen. Er wäre gerne mit der Zunge drübergefahren. Später spendierte er einen
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