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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Kirschwhisky. Mit den klebrigen Gläsern in der Hand sprachen sie über die Welt. Gott erwähnten sie nicht. Sie, weil Lenin es empfahl. Er, weil Gott nicht berechenbar war. Nein, nicht unberechenbar im charakterlichen Sinne, sondern mathematisch nicht erfassbar. Also die Welt. Vor allem die Welt der Zukunft. Ihre kannte keinen Hunger mehr. Seine schwebte auf Magnetkissen hochgeschwind heran.
    Und sie hatte so einen schönen kleinen Saugmund. Das war gut. Das war sehr gut. Rein körperlich betrachtet. Aber im übertragenen Sinn … Später nannte er sie in Gedanken manchmal Saugfisch. Ja, bis sie dann auf einmal losgelassen hatte. Ihm fehlte nun was.
    Da fuhr Helder schon Fahrrad, und ihre Zukunft war Vergangenheit. Aber dieses Blau. Dieses Blau war so gegenwärtig, dass es ihn überkam. Er stieg vom Rad und bückte sich nach der ersten Kornblume. Blumen pflücken? Helder scheute zurück, richtete sich auf und blickte sich um.
    Niemand zu sehen, der Asphalt flimmert still vor sich hin. Helder zieht an einem Blumenstängel, knickt ihn, reißt daran, hat ihn schließlich samt Wurzel ausgerissen. Dass das so schwer geht? Die geht schon besser. Noch eine und noch eine. Da ein Auto. Helder lässt die Blumen fallen, postiert sich breitbeinig am Feldrand und guckt in die Luft. Tut pinkelnd. Das ist wenigstens männlich. Darauf kommt es an, Mann sein.
    Außerdem, was hätte er mit dem Strauß tun sollen? Susanne schenken? Wortlos auf die Kommode stellen? Hatte er denn etwas gutzumachen?
    Er hatte immer etwas gutzumachen. Kam er zu spät aus dem Büro, war er sicher, Susanne vernachlässigt zu haben. Kam er zu früh und sie war noch nicht zu Hause, fragte ersich, ob er nicht besser diese oder jene Berechnung hätte zu Ende bringen sollen. So erledigte er derweil wenigstens den Abwasch. Dieses Gefühl, schuldig zu sein, ließ sich nur wegarbeiten. Aber nicht mit Kornblumen wegschenken. Das ging nicht, das passte nicht, vielleicht, weil dieses Blau so unschuldig war.
    Als Helder sein Rad bestieg – blumenlos – und weiterfuhr, wusste er, die Summe kleiner Unterlassungen hatte sich um eine weitere unbekannte Größe erhöht. Dies verlieh seinem Leben eine gewisse Normalität. Es blieb das leise Gefühl, etwas verloren zu haben, eine aufkommende Erinnerung an einen Verlust, der vor langer Zeit eingetreten war. Ja, wann eigentlich? Als der Berufsalltag die großen Pläne zu schreddern begann? Als unter den Gewohnheiten seiner Ehe die Gefühle verstaubten? Oder früher noch? Bei der Einberufung zum Militärdienst, als mit den Haaren auch die Illusionen fielen? Oder am Ende der Kindheit, als die Fragen begannen, auf die die Antworten der Erwachsenen nicht passten? Oder noch eher, beim Austritt aus dem Mutterleib oder …? Lächerlich, dachte Helder. Als er in die Pedale trat, zerriss der Fahrtwind schließlich den leichten Schleier von Trauer.
    Blumen am Straßenrand gehörten zu jenen Vorfällen, die seine gewohnte Ordnung störten. Wenn er künftig Rad fuhr, dann fixierte er nur noch die Straße. Er surrte leistungsmäßig über den Asphalt, so dass die Geschwindigkeit links und rechts alles gründlich verwischte und er nicht Gefahr lief, noch einmal an so etwas wie Kornblumen hängen zu bleiben.
    Also Rad fahren, gut. Aber wandern? Das ging ja so unendlich langsam voran. Gar noch allein? Viel zu viel Zeit für unnütze Gedanken!
    Er könnte die Schuhe seinerseits Susanne vermachen, zu Lebzeiten schon. Vielleicht, mit ein paar ordentlichen Einlegesohlen, würden sie ihr passen. Außer im Wald konnteman damit sowieso nirgends aufkreuzen, ohne wie ein Sozialfall betrachtet zu werden.
    Das Wort Sozialfall erinnerte Helder auf unangenehme Weise an andere Wörter, die gerüchteweise sein Büro durchschwirrten: Rationalisierung, Umstrukturierung, Personalabbau. Lauter Drohworte, lauter Schreckworte. Schön amtlich, wenn man sie aufschrieb. Fatal, wenn man sie las. Früher, pflegte Helders Vater zu sagen, lebte man nirgends sicherer als bei der Bahn: Betriebsrente, Betriebswohnung, Zuschläge, Freifahrscheine für ganze Familienclans.
    Tja, früher. Unsereiner, dachte Helder, hat derlei Wohlfahrt nun auszubaden. An seine Zukunft bei Rail4You mochte er gar nicht mehr denken.
     
    Spätabends, ja eigentlich war es schon Nacht, und Helder schlief, da schrillte das Telefon.
    Ja, es schrillte. Kein elektronisches Gefiepe, kein pseudomelodisches Gedudel. Das, pflegte Helder zu sagen, ist noch ein Telefon.
    Treu hielt er an Dingen fest, die

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