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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Kabel in Dose undWand und aus den Mauern der Behausung hinaus, hinaus ins Land, in die Welt, in …
    Wohin denn noch, Helder?
    … So jedenfalls haben wir dereinst mit unserer Nabelschnur am Mutterkuchen festgehangen.
    Ach, Helder. Wir sehen dich und deine Sippe noch immer festgezurrt in der Vergangenheit. Hilft da Vergessen, hilft da Verschweigen? Wir ahnen schon, du musst noch mal zurück, um loszukommen.
     
    Das Telefon schrillt: He, Helder, stell dich nicht länger tot. Wenn du doch sprächest, heb ab und erzähle! Frage nicht, wer angerufen hat, wenn du gut erzählst, dann wird er dranbleiben. Nur im Erzählen findest du den Fluss mit seinem stillen, seinem rettenden Ufer. Dorthin, wo, wie über die Zirbeldrüse des René Descartes, sich die materielle mit der geistigen Welt vereint. Dorthin, wo die Zahl nicht länger über das Zeichen triumphiert.
    Im Erzählen, Helder, im Erzählen nur entkommen wir den Gespenstern Europas, den Gespenstern aller Kontinente. Die gehen um, weil wir, von allen guten Geistern längst verlassen, sie nicht mehr fürchten, sondern ersehnen: die Feldherren und die Erlöser. Wir, die wir nichts mehr fürchten. Nichts mehr. Nur die Leere einer mit finanzmathematischen Symbolen illuminierten Welt.
    Das Telefon schrillt. Helder wälzt sich ruhelos im Bett, mit rasendem Herzen.
    Helder, du warst bereit, den unauffälligsten aller Tode zu sterben, den Tod im Büro. Du warst bereit, als Strichcode aufzufahren gen Himmel. Steh auf, sprich! Wir wollen sehen, ob es dir gelingt, dem Tod zu entkommen.
    Helder jedoch schwieg, schwieg, seit er denken konnte, von seiner Not. Nur eines hatte er gelernt, das Chaos in Fahrplänen zu ordnen. Das Kursbuch, das war seine große Erzählung.
    Erst seit der Fortschritt ihm verwehrte, im süßen Denkschweiß algorithmischer Berechnungen zu baden, spürte Helder die Regung, dem digitalen Zeitalter zu entfliehen. Er ahnte, nur scheinbar ist eine Welt, die sich durch das Umschalten von einer Zahl auf die andere definiert, eindeutiger, klarer, sicherer. Jene entschwindende analoge, die von steter Veränderung lebt, vom Übergang, war ihm gemäßer: Mit einem Computer, sagte er, lässt sich nicht der Rücken kratzen. Mit einem Rechenschieber schon.
    Helder war von Natur aus kein Widerstandskämpfer, sondern ein Flüchtling. Noch an den sichersten Orten spähte er nach Gelegenheiten, zu entkommen – am liebsten dem Fortschritt selbst, der ihm nach Füßen und Händen nun noch den Kopf überflüssig zu machen drohte und der nach seinem Herzen nur als Spenderorgan fragte.
    Das Telefon schrillt: einen Arzt, schnell einen Arzt! Grüne Kittel, grüne Masken, grüne Augen. Susannes grüne Augen. Unter grünen Tüchern: er, den Brustkorb freigelegt. Das Skalpell. Träumt er das? Da rüttelt ihn jemand. Der Arzt, er zieht die Maske ein Stück herab, beugt sich an sein Ohr: Herr Helder, flüstert er, Herr Helder, die Kombination, bitte!
    Welche Kombination?
    Aber Herr Helder, das Zahlenschloss, ihr Herz, wir können es nicht öffnen, wir brauchen die Kombination!
    Helder erschrickt: Er hat sie vergessen, er hat die Zahlen vergessen …
    Das Telefon schrillt und schrillt, und langsam wird er wirklich wach. Endlich.
     
    Helder hob ab, und er hörte Tante Erdmuthe gruß- und ankündigungslos seine Meinung erfragen, ob zu ihrem hundertsten Geburtstag denn auch der Bundespräsident käme?
    Warst du nicht schon vor drei Jahren hundert?
    Egal, Hauptsache, dieses Mal kommt der Bundespräsident!
    Nicht der Bundespräsident, Tantchen, bestenfalls der Ministerpräsident. Weißt du eigentlich …
    Hauptsache, er hat ein Geschenk.
    … wie spät es ist?
    Egal. Ich bin nicht müde. Deine Mutter will mich auch immer ins Bett schicken. Als wäre ich ein Kind. Muss ich in meinem Alter noch schlafen? Gibt nur böse Träume!
    Helder wechselte den Telefonhörer in die linke Hand, schob die rechte unter den Schlafanzug und massierte sich den Brustkorb. Das Herz, das Herz, da klopft es. Los, frag jetzt! Weißt du, wie spät …
    Frag jetzt!!
    Wer?
    Hans Kaspar Brügg.
    Der Hans? Verdampft. Das weißt du doch, Jungchen.
    Und vorher?
    Hat er deine Großmutter sitzenlassen.
    Aber warum, Tante Erdmuthe? Warum hat er das gemacht?
    Ja, da war was.
    Was war da?
    Na, irgendwas, woher soll ich das denn wissen. Aber wenn dann der Herr Bundespräsident …

IV
    Tante Erdmuthe träumte mit ihren hundert Jahren noch immer vom anderen Leben. Nein, nicht vom Jenseits, sondern vom Besitz und sogar vom Leben

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