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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Nach ihrer dritten Häutung hörte er das Rauschen ihrer großen Mahlzeit, während er über Siyakuus mondsilbernen Rücken strich.
    Im Juni begannen sich die ersten zu verpuppen. Ende des Monats sammelten Ahmad und Digrin die Kokons von den Zweigen, um ihre Bewohner in heißem Wasser zu töten. Einige aber ließen sie hängen, in zwei, drei Wochen würden daraus Schmetterlinge schlüpfen. Mütterlinge, so Ahmad, für neue Seidenraupen.
    Wie viel Seide werden wir gewinnen?, fragte Digrin.
    Nun, sagte der Derwisch, unser Vögelchen wird schon ein hübsches Tüchlein davon haben.
    Mehr nicht?
    Wieso? Brauchst du etwa ein Schnupftuch? Du nimmst doch die Finger?
    Da lachte Digrin. Und Ahmad lachte. Und die dabeistanden, Siyakuu, Hans und ein Dutzend neugieriger Nachbarn, alle lachten.
     
    In diesen Tagen war Hans von einer großen Klarheit erfüllt. Klarheit und Ordnung, einer Ordnung, die sichfreilich von der einer Dienstvorschrift sehr unterschied. Hans Kaspar durfte Ahmad einige Male zu den Mevlevi begleiten, dem jahrhundertealten Orden, den einst der Dichter und Sufi-Meister Dschelaleddin Rumi begründete hatte.
    Dort lauschte Hans Kaspar dem schwebend schwermütigen Lied der Rohrflöte, hörte das Schlagen der Trommel während der Litaneien, und er sah die Derwische den Sema tanzen. Mit hohen Filzhüten bedeckt und bekleidet mit langen weißen Mänteln, glitten sie in scheinbar schwebendem Reigen durch den Raum. Mit ausgebreiteten Armen drehte sich ein jeder um seine Mitte.
    Siehst du, sagte Ahmad, ihre rechte Hand ist zum Himmel geöffnet, um die Gaben Gottes zu empfangen, während ihre linke sie weitergibt an das irdische Dasein. So kreisen sie, losgelöst und selbstvergessen, von der Musik getragen und ihrer Liebe zu Gott.
    Da erlebte Hans Kaspar eine Gemeinschaft, die anders war als Arno Brüggs
Wir von der Bahn
. Doch war es nicht das Mindeste, was er seinem Vater schuldete,
diesen
Kodex zu erfüllen? Gerade jetzt, wo ihn der asthmatische Stationsvorsteher immer öfter an den Bahnsteig schickte, die Ein- und Ausfahrt der Züge zu überwachen.
    Gleichzeitig begannen sich Fahrpläne und Reglements im wirbelnden Tanz der Derwische aufzulösen.
    Ein Zwiespalt, der ihn beunruhigte. Was sollte er tun, wenn der türkische Zugschaffner erst nach Tabak lief, so dass Hans vor der Wahl stand, den Zug verspätet oder ohne Kontrolleur abfahren zu lassen? Sollte er dem Vorsteher melden, wenn wieder ein Fahrgast einen Gürtel trug, der eigentlich ein Lederriemen und dafür bestimmt war, die Abteilfenster aufzuziehen?
    Was hatte Ahmad auf seine Klagen geantwortet:
    Wenn du dir eine Perle wünschest,
    such sie nicht in einer Wasserlache.
    Denn, so spricht Rumi:
    Wer Perlen finden will,
    muss bis zum Grund des Meeres tauchen.
    Ist das die zweite Strophe, Ahmad?
    Welche zweite Strophe?
    Erinnere dich doch. An jenem Abend im Taurus sangst du von einem jungen Mann, der hohe Berge überstieg, um sein Glück zu finden.
    Und, hast du es gefunden?
    Nicht dort, wo ich damals meinte suchen zu müssen.
    Siehst du, eben das ist die zweite Strophe.
    Aber jetzt, aber hier. Die Bahn, das ist meine Arbeit!
    Na und? Gott sagt nicht, faulenze. Gott sagt, liebe! Ahmad griff zur Pferdekopfgeige und sang.
    Das ganze Leben sang in diesen Tagen. Die Telegrafendrähte surrten, die Bahn schnaufte heran, ein sonnenverbranntes Bäuerlein zog in letzter Sekunde seine Ziege von den Gleisen, eine Matrone schob erst mehrere Körbe, dann ihre mit Tüchern verhüllten Töchter in einen Waggon, türkische Soldaten saßen rauchend und schwatzend um ein Geschütz auf offenem Wagen, ein deutscher Offizier stolzierte zum Limonadenverkäufer, und, so schien es Hans in diesem Moment, der weite Himmel über dem anatolischen Hochland schloss alles und jeden in seine blauummantelten Arme.
    Zu all diesem Glück ein Extraglück, nein, der Anfang allen Glücks: Siyakuu.
    Die Senke über ihrem Schlüsselbein, der Quell in der Frühe. Wie glitzernde Kiesel ihre Zähne. Ein Abendhauch der dunkle Haarflaum ihres Nackens. So spricht Salomo, dachte Hans, nein, so spreche ich, Siyakuu, du Vogelherz, du Schwanenseele, du …
     
    Eines Abends kamen die Gendarmen ins Seidenraupenhaus. Einer von ihnen hatte sich noch vor wenigen Tagenfür seine Frau bei Digrin ein Seidentuch bestellt. Jetzt lächelte er nur noch verlegen: Es wird sich klären, Digrin, es wird sich klären.
    Als in Digrins Haus die Falter endlich aus den übriggelassenen Kokons schlüpften, da war Siyakuus Vater

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