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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Siyakuu von der Brücke.
    Eines Tages war Ahmad von einer Reise nach Alaiye zurückgekehrt. Am Abend, man saß wieder im Garten des Seidenraupenhauses beisammen, übergab er an Siyakuu ein Seidentuch mit den Worten: Dein Vater hätte dieses Tuch aus der Seide unserer Kinderchen sicher gern selbst in den Händen gehalten und dir, wie versprochen, übergeben. Er wird mir verzeihen, dass ich es nun tue. Und, dass ich es eigenmächtig mit einer Stickerei versehen ließ.
    Siyakuu nahm das Tuch, entfaltete es und betrachtete das darauf gestickte Bild: eine sich im Sema drehende Frau, zu ihren Füßen ein Tiger.
    Wenn du ihn brauchst, sagte Ahmad und deutete auf den Tiger, wird er dir helfen!
    Später, sie hatten wieder reichlich getrunken, war es ein Spritzer roten Weins auf Estragons weißem Pullover, der die jungen Männer gegeneinander auffahren ließ.
    Hans machte sich über Estragons plötzlich ernüchtertes Jammern lustig, und kaum dass der ein Salzfässchen über der befleckten Wolle ausgestreut hatte, strauchelte Hans beim Gang zum Abort. Im Fallen stützte er sich ausgerechnet in eine Schale mit Brombeeren, um dann an Estragons Arm Halt zu suchen.
    Estragon, entsetzt über das erneute Malheur, zog Hans hoch, aber nur um ihn wütend zu schütteln. Der spürte nun auch keinen Grund mehr zur Zurückhaltung.
    Du Idiot, denkst du, ich habe das absichtlich getan?
    Das hast du! Das hast du!
    Da! Hast du!
    Der Schlag brachte einige Äderchen in Estragons Nase zum Platzen, und ein schmaler Streifen Blut rann über Lippen und Kinn, tropfte auf den Pullover. Estragon nahm dies nicht mehr wahr, denn schon hatten sich die beiden jungen Hähne heftig umschlungen.
    Vergebens rief Siyakuu: Aufhören, aufhören!
    Ahmad schmunzelte. Doch plötzlich, die beiden Männer wälzten sich schon auf dem Boden, erschrak auch er. Unbemerkt war der Tiger herangekommen, und nun, mit einem Satz, stand er auf dem Tisch.
    Das Einzige, sagte Ahmad später, was ich tun konnte, war singen. Singend beten zu Gott und anrufen seinen allverzeihenden Namen: Al-Ghafur.
    Langsam, sehr langsam hatte sich Ahmads Tiger zurückgezogen. Es war der letzte gemeinsame Abend gewesen. Der Zauber des Seidenraupenhauses war verloren.
    Später sprach Ahmad Hans gegenüber noch einmal vom Griechen Empedokles: Die Liebe, so hätte der gesagt, vereint uns in göttlicher Sphäre. Der Hass ist es, der trennt. Und was, fügte Ahmad hinzu, ist die Eifersucht anderes als der Hass auf sich selbst, vom Zweifel genährt? – Sieh nur, als ich dem Tiger das erste Mal begegnete, wollte er mich töten. Ich habe ihn umarmt. Umarme du den Tiger in dir!
    Nichts nützt, wenn man jung ist, die Weisheit der Alten. Ein Käfig schien Hans angemessener für einen Tiger. Hans Kaspar Brügg hielt sich selber und andere von nun an im Zaum. Den Schaffner ließ er nicht mehr nach Tabak laufen. Einen armseligen Reisenden, der mit dem Vorhang eines Abteilfensters als Sonnenschutz über dem Kopf aus dem Zug stieg, schleppte er zum Stationsvorsteher. Er war dessen strenger Gehilfe geworden. Sein
Wir von der Bahn
hatte seitdem mitunter bedrohlich geklungen.
     
    Aber, dachte der im Mai 1921 arbeitslose Eisenbahner Hans Kaspar Brügg, als er am Morgen nach einer Tanznacht imGasthaus »Zur Schwanenweide« ruhelos durch taunasse deutsche Wiesen nahe der Stadt Cottbus stapfte. Ein
aber
, das ihn abhielt, sich zwei Schwestern und einer neuen Liebe zuzuwenden. Aber wie soll das
jetzt
gutgehen?
    Immer wieder
aber
: Aber hätte nicht
damals
noch alles gut werden können?
     
    Damals, im Oktober 1915, entließ die Unterschrift eines deutschen Obristen Digrin Nokudian nun auch formell aus dem imaginären
Wir von der Bahn
. Und damit auch dessen Tochter Siyakuu aus dessen Schutz. Oberstleutnant Böttrich, zu der Zeit verantwortlich für die Eisenbahnlogistik im Osmanischen Reich, wies an, alle armenischen Angestellten der Eisenbahngesellschaft aus dem Dienst zu entfernen.
    Achtzehn Jahre war Hans da gerade geworden. Und nichts hatte er gewusst. Doch, gewusst schon, aber nicht verstanden. Erst später hatte er verstanden, dass er es gewesen war, der auf dem Bahnsteig stand, der nichts begriff, obwohl er alles sah und alles hörte:
    Der tote Tiger. Der schreiende Ahmad. Siyakuu, irgendwo, gepfercht in einen der Waggons. Die durcheinanderlaufenden Soldaten. Der türkische Offizier, der ihn in perfektem Deutsch mit leicht schwäbischem Akzent anbrüllte: Lasse Se de Zug jetzt abfahre, Mann!
    Hans hob die Kelle,

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