Der Lavagaenger
bring eine Decke, die Eierchen frieren.
Tatsächlich, sagte Ahmad, der herbeigeeilt war, sie sind so blau wie die Lippen eines Bettlers im Winter.
Am Abend kam Digrin freudestrahlend vom Dienst. Er hatte einem Bekannten in Alaiye telegrafiert, und der hatte herausgefunden, warum die Raupeneier ihre Farbe wechselten.
Sie wachsen, Ahmad, sie wachsen.
Tag für Tag wechselte Digrin nun Telegramme mit seinem Bekannten über Gedeihen und Pflege der Brut. Am zehnten Tag, Digrin hatte sich eigens Urlaub erbeten, stand er bereit, mit einem frisch geschnittenen Maulbeerzweig die ersten Raupen zu begrüßen. Er stand dort auch am elften Tag, weigerte sich, nachts zu Bett zu gehen, und wachte gemeinsam mit Ahmad, bis er, den Kopf auf einem Korb mit Maulbeerblättern, irgendwann einschlief. Nach der zwölften Nacht schlich Digrin niedergeschlagen zum Dienst. Dann, im Morgengrauen des dreizehnten Tages, erwachte Ahmad auf seinem Bett aus Maulbeerblättern von einem merkwürdigen Geräusch. Es klang, als rausche ein Fluss mitten durchs Haus. Er sprang auf. Und er sah, aus fast allen Eiern waren kleine Räupchen geschlüpft, die sich geräuschvoll durch die Blätter fraßen.
Ich wusste, hatte Ahmad ausgerufen, dass Gott mich nicht Lügen strafen würde. Dann war er zum Bahnhof gerannt, um Digrin Bescheid zu geben. Die beiden Männer waren sich in die Arme gefallen und hatten getanzt. Dabei hatte Digrin immer wieder gerufen: La Illahe Illallah! Ahmad hatte geantwortet: Gelobet sei der Herr!
Von alldem ahnte Hans Kaspar nichts, als er auf dem Hof des Seidenraupenhauses stand.
Nun also, nach einem freundlichen Blick auf Hans, wandte sich Ahmad an Siyakuu und sagte: Komm, lass uns ihm unsere Kinderchen zeigen!
Natürlich meinte Ahmad seine Raupenzucht, doch Hans war irritiert. Sollte diese junge Frau, ja, dieses Mädchen, kaum so alt wie er, tatsächlich mit dem alten Ahmad verheiratet sein? Hatte sie nicht neulich dem Telegrafisten der Bahnstation das Mittagessen gebracht? War da nicht auch ein Blick gewesen? Ein Blick, der neugierig fragte: Na, wer bist du? Und nicht sie, sondern er hatte scheu den Kopfzur Seite gedreht, um dann sehr beschäftigt in einer Werkzeugkiste zu wühlen.
Hans brachte das nicht zusammen und muss wohl offenen Mundes Siyakuu angestarrt haben.
Sieh nur, Ahmad, lachte Siyakuu, dein deutscher Monsieur hat Hunger, er sperrt den Schnabel schon auf.
Nein, fiel Ahmad in die Spötterei ein, er trägt sein großes Herz auf der Zunge.
Groß, aber schweigsam, fügte Siyakuu hinzu, nicht wahr, Monsieur Brügg?
Natürlich hatte sie Hans erkannt. Der schweigsame, fast verkrochene Deutsche mit den melancholischen Augen forderte sie geradezu heraus, ihn aus seiner Höhle zu locken. So hatte sie sich bei ihrem Vater nach ihm erkundigt. Digrin nannte zwar den Namen Brügg, doch meinte er, sogleich allen Eventualitäten vorbeugen zu müssen: Höre, Kind, wir sind gutgläubige Christen, und was der Brügg ist, weiß man nicht. Der kommt aus Deutschland, da gibt es nur Katholiken, Protestanten und gottlose Sozialdemokraten.
Und Ahmad, entgegnete Siyakuu, was ist mit dem, der ist Mohammedaner?
Der ist auf seine Art ein frommer Mensch und großer Seidenraupenzüchter. Außerdem ist er mein Freund, nicht deiner. So hatte Digrin die Diskussion beendet und sich wieder seinem Telegrafen zugewandt.
Jetzt strich Siyakuu ihr feuchtes Haar aus dem Gesicht und sagte: Nun, Monsieur Brügg, was wollen wir tun? Essen, reden …
Als Ahmad nun auch noch Hans’ Empfindsamkeit gegenüber einer Anrede in der Sprache des Erzfeindes erwähnte, stammelte der bloß etwas von Dienstpflichten und wandte sich hastig zum Gehen.
Er ging und ging, schwang dabei wütend seinen Hammer und dachte: So dumm, so dumm bin ich. Und sie istso schön. Siyakuu, das hieß doch schwarzer Vogel? Nein, aber sie war kein Vögelchen, eher ein Schwan, ein schwarzer Schwan, stolz und angriffslustig. Und er? Er war ein platschiger Erpel.
Seit diesem Tag versuchte Hans, seine Kontrollgänge so einzurichten, dass er die Bahnstation etwa zur selben Zeit wie Siyakuu erreichte. War er gegen Mittag irgendwo draußen an der Strecke, versuchte er, auf einen vorbeifahrenden Zug Richtung Konya aufzuspringen, wobei er nicht selten heftig stürzte. Mit der Zeit aber wurde er so geschickt, dass er ohne Blessuren im Ort ankam. Wenn er dann vom Tender sprang, saß Siyakuu schon im Fenster des Telegrafisten und winkte.
Später also lernte Hans Ahmads
Kinderchen
kennen.
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