Der Lavagaenger
nicht dabei.
Da konnte auch Hans’ Vorgesetzter nichts ausrichten, obwohl, wie der gelegentlich eines Essens im Garten des Telegrafisten versichert hatte, die Bahngesellschaft alles täte, ihre armenischen Angestellten zu schützen. Er wiederholte das Hans gegenüber erneut, fügte aber diesmal hinzu: Leider ist das in Anbetracht der herrschenden Ressentiments wie auch des unklugen Verhaltens zahlreicher Armenier, die im Rücken des osmanischen Heeres Aufstände anzetteln oder gleich zu den Russen überlaufen, nicht leicht. Ja, und nun Hochverrat, das sei kein leichter Vorwurf.
Es stellte sich heraus, dass man Digrins Depeschen nach Alaiye als chiffrierten Aufruf zum Aufstand auslegte. Ein Umstand, den Digrin glaubte leicht aufklären zu können.
Doch dazu muss man angehört, nicht angebrüllt werden.
Das habt ihr euch so gedacht!, schnauzte der vernehmende Offizier. Erst Zeitun, dann Van und nun Alaiye. Nenn mir die Namen! Wo sind die Waffen versteckt?! Rede, Mann!!!
Ein zweiter Uniformträger, der schweigend rauchte, machte eine beschwichtigende Geste und bot Digrin eine Zigarette an und einen Kaffee.
Sehen Sie, Herr Nokudian, sagte er leise, fast flüsternd, die Engländer sind dabei, sich in Arabien festzusetzen. Dann sind unsere Kaffeeplantagen verloren. Er schmeckt ihnen doch, unser Kaffee? Wir wissen übrigens, Herr Nokudian, dass Sie der Föderation der armenischen Revolutionäre angehörten. Kamerad, wir haben doch gemeinsam den Sultan entmachtet. Seine Exzellenz, der Innenminister,das ganze Komitee für Einheit und Fortschritt, wir alle rechnen noch immer fest mit der Unterstützung durch unsere armenischen Freunde.
Es schien, als fehle dem Flüsterer die Kraft weiterzusprechen. Er seufzte, und es klang beinahe flehentlich: Gerade jetzt, wo der Feind im Land steht. Kamerad, du bist da in etwas hineingeraten. Sprich dich aus.
Irritiert nickte Digrin, doch innerlich schüttelte er sich, als müsse er aus einem unangenehmen Traum erwachen.
Sicher, er und andere Föderierte hatten 1908 in Konstantinopel gemeinsam mit jungen türkischen Offizieren, die man später einfach Jungtürken nannte, die Marseillaise gesungen. Künftig sollte es weder Bulgaren noch Türken, weder Juden und Christen noch Moslems, nicht Armenier, nicht Kurden geben – nur noch Osmanen. Das Osmanische Reich, ein Reich der Freiheit fortan. Eine trunkene Brüderschaft, die für Digrin bereits ein Jahr später im bitteren Kater geendet hatte.
Unruhen in Kilikien. Wie immer hatten die anderen angefangen. Für Digrin endete die Angelegenheit mit dem Tod seiner Frau. Damals hatte er sich von den Föderierten getrennt. Da waren zu viele nationalistische Hitzköpfe. Damals und jetzt wieder. Auf allen Seiten.
Trotzdem, man kann nicht mitten im Krieg desertieren, Gendarmen umbringen, anständige Leute zur Rebellion nötigen. Das gehört sich nicht, dachte Digrin, gerade nicht, wenn man Armenier ist. Unsereiner muss es dann ausbaden.
Es muss, sagte Digrin, sich um ein Missverständnis handeln.
Der Flüsterer schüttelte enttäuscht, ja beinahe traurig den Kopf.
Der andere schrie wütend auf: Mach uns nichts vor! Er hieb seine Faust auf den Tisch, dass Digrins Kaffeetasse scheppernd zu Boden fiel. Da, der Brüller schob ein paarPapiere herüber, die sich sofort mit verschüttetem Kaffee vollsogen. Das hast
du
telegrafiert:
Die Brut reift.
Und hier:
Morgen werden sie schlüpfen.
– Aber verlass dich drauf, eure Brut wird nie mehr schlüpfen!
Digrin lachte auf, was ihm eine Ohrfeige einbrachte. Jedes Wort über Seidenraupen steigerte die Wut des Brüllers. Der Flüsterer hob resigniert die Schultern und verließ den Raum. Digrin brachte wenige Minuten später kein Wort mehr über die blutig geschwollenen Lippen.
Digrins Bemühen um Aufklärung mag gescheitert sein, weil Innenminister Talaat Pascha, so erzählte man sich, die schwere Ermittlungsarbeit der Gendarmerie durch ein Telegramm erleichtert hätte. Darin, so hieß es, habe er angeordnet, grundsätzlich alle Verdächtigen, also
alle in der Türkei lebenden Armenier restlos auszurotten … ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke.
Man wird sie lediglich umsiedeln, versicherte Hans’ Vorgesetzter. Ins Zweistromland. Und das Fräulein Siyakuu steht als Tochter Herrn Nokudians quasi als Angestellte unter dem Schutz der Gesellschaft. Wir werden alles tun …
Wir von der Bahn
, hatte der gesagt, der Hans erst nach seinem schnellen Sterben zum Vater geworden war.
Wir von der
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