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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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machte es nicht besser: Arno Brügg sei tatsächlich, was meint, auch im biologischen Sinn, sein Vater gewesen. Nein, beschwor ihn Carla, sie hätte es nicht gewusst, nicht einmal geahnt.
    Nein, das nicht, sagte sie. Erst in der Nacht, als du in den Bergen verschwunden bist, hat Brügg, hat dein Vatersich mir offenbart. Ach, Hans, seufzte sie, vielleicht werde ich ihr begegnen, deiner … Mutter. Wo auch immer …
    Wo auch immer, wiederholte Hans tonlos.
    In den Nächten zwischen Carlas Tod und ihrer Beerdigung sah sich Hans Kaspar vor einem Grab stehen. Er musste ein Kind sein, denn neben ihm stand, so groß, dass er an seinem Hosenbein aufblicken musste, sein Vater. Der Vater weinte, und Hans verstand nicht warum. Es blühte doch ringsum alles so schön. Dann las er den Namen Carla auf dem Grabstein, und er verstand.
    Jahre später, wenn Hans Kaspar Brügg Anatolien wieder verlassen haben wird, wird er das Grab seiner unbekannten Mutter Margarita Wolkenfuß ausfindig machen. Er wird einige Minuten auf einer Friedhofsbank sitzen und sich schwören, von nun an mit beiden Beinen fest auf dem Boden (nicht in den Wolken!) zu stehen. Nur Träume trügen, Tatsachen nicht, so wird er zu einem in der nächstgelegenen Kneipe sagen. Doch werden wir sehen, wie die Tatsachen ihn eines Tages zwingen, wieder zu träumen.
    Zu dieser Stunde, an Carlas Krankenbett, hatten ihn die neuen Tatsachen tüchtig durcheinandergewirbelt. So kräftig, dass er handgreiflich geworden war gegen die Wirklichkeit.
    In diesem Moment nämlich betrat der Arzt mit einer Arsenikspritze das Krankenzimmer. Dass er dabei fröhlich einen Cancan pfiff, machte ihn zur Zielscheibe für Hans Kaspars Hilflosigkeit. Die dem Arzt folgende Schwester rief lauthals um Hilfe. Zwei Pfleger stürzten herein, packten Hans Kaspar und schoben ihn hinaus.
    So endete seine letzte Begegnung mit Carla, für die er immer etwas ganz Besonderes gewesen war und von der wir nicht einmal den Nachnamen wissen. Sie war, was sie nie behauptet hatte, doch eigentlich seine Mutter gewesen.
    Der Faustschlag gegen den Arzt brachte Hans, formal noch immer Angehöriger des osmanischen Heeres, in eineZelle. Er musste dort lediglich drei Stunden absitzen, denn sein Opfer war Franzose. Der Entlassung aus dem Arrest folgte die aus der osmanischen Armee, worum sich Carla in den letzten Tagen vor ihrem Tod mit Verweis auf das tatsächliche Alter ihres Adoptivsohnes und mit Hilfe des deutschen Konsuls bemüht hatte.
    Statt des Karabiners trug Hans nun einen langstieligen Hammer, was Arno Brügg gewiss mit Wohlwollen gesehen hätte. Die Anatolische Eisenbahngesellschaft brauchte Streckenkontrolleure.
    So war Hans Kaspar Tag für Tag die Strecke abgelaufen, hatte kontrolliert und protokolliert, hatte überfahrenes Kleingetier den Bahndamm hinabgeschleudert, ebenso auf oder zwischen den Gleisen liegende Gestände. Hatte bereits in der ersten Woche einen Sprengmeister angefordert, als er unweit des Bahnhofs ein verdächtiges Kästchen entdeckt hatte.
    Die vermeintliche Bombe hatte sich als Spieluhr entpuppt, die wohl einem Kind auf dem Perron eines ausfahrenden Zuges aus den Händen gerutscht war.
    Der Himmel stand blau überm anatolischen Hochland. Sperlingsschwärme stoben durch die am Morgen noch erträgliche Hitze, als Hans Kaspar über eine Bruchsteinmauer in einen von Weinlaub überrankten Hof spähte. Dorther also kam das Lied der Pferdekopfgeige. Lauschend verharrte er auf der Straße und wagte, wie gesagt, nicht näher zu treten.
    Er hatte sich nicht getäuscht. Es war Ahmad, der dort singend sich selber begleitete. Sein Bogen sprang und hüpfte über die Saiten. Darüber lag sein Lied, von den Bogenstrichen gleichsam in der Schwebe gehalten. Die steinernen Stufen, auf denen Ahmad saß, führten auf die Veranda eines Hauses, wo sich eine Frau über eine auf einem Tisch stehende Blechschüssel beugte. Ihr langes dunkles Haar hing herab, und mit flinken Bewegungen übergosssie es wieder und wieder aus einem handlichen Krug. Das rhythmisch in die Schüssel rinnende Wasser fügte sich hell und klar in die Musik.
    Abseits auf den großen Steinplatten des Hofes, dort, wo Sonne und Weinlaub ein grüngoldenes Gewölbe bauten, lag Ahmads Tiger und döste.
    Die ganze Szene war wie in einen Zauber gehüllt, der Hans Kaspar nicht losließ, ihm aber auch verwehrte, den Kreis zu betreten. Ihm war, als könne nur ein stilles Atmen, eine behutsame Aufmerksamkeit diese kleine Welt bewahren. Gleichzeitig wusste

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