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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Lokomotiven hin und her. Doch dann, Karwenzel fischte mit der Zunge gerade nach Kaffeesatz zwischen den Zähnen, meldete das Stellwerk eine defekte Weiche. Wenig später klingelte das Telefon, und ein Salonwagen mit SA-Führern wurde avisiert, der schnell und reibungslos vom Zehnuhrsiebzehn aus Kassel an den Zehnuhreinunddreißig nach Berlin umgehängt werden musste. Der Stationsassistent erinnerte an einen Termin in Halle bei der Direktion, und ein Fahrkartenverkäufer beschwerte sich über eine defekte Heizung.Den Termin ließ Karwenzel wegen staatspolitischer Notwendigkeiten absagen. Da müsste er ja jetzt schon abgefahren sein.
    Gegen neun schickte Karwenzel nach Mendels Rat, gegen elf saß Mendel als Berater auf einem Hocker neben dem Schreibtisch, und nach Mittag kam ein Anruf aus Halle. Der dort Mendel vermissende Reichsbahndirektor erfuhr zu seinem Erstaunen von der Neubesetzung des Bahnhofsvorstandes durch die nationalsozialistische Bewegung. Der Tatsache, dass am selbigen Tag in Berlin Reichsbahngeneraldirektor Dorpmüller und Reichskanzler Hitler über die für Letzteren vorrangigen Personalfragen und die für Dorpmüller leidige Konkurrenz des Kraftverkehrs sprachen, verdankte Karwenzel sein einziges und unvergessliches Gespräch mit Hitler. Kurz vor fünfzehn Uhr rief Dorpmüller, der aus Halle über unhaltbare Zustände in Krahnsdorf-Brandt unterrichtet worden war, an und verlangte, Karwenzels frisch erkämpfte Dienststellung völlig ignorierend, Mendel zu sprechen. Nach einem kurzen Gespräch reichte Mendel den Hörer zurück, und Karwenzel vernahm zu seinem Erstaunen jetzt die düster rollende Stimme seines Führers, die mahnte, auch in Krahnsdorf-Brandt seine Befehle abzuwarten und: Sie, Kamerad Scharwenzel, begeben sich sofort in häusliche Bereitschaft!
    Wie in Trance legte Karwenzel den Hörer auf und wanderte, ohne sich auch nur umzusehen, aus dem Zimmer durch den Bahnhof die Leipziger Straße hinunter nach Hause, wo seine Frau schon seit dem Mittag die Kohlsuppe warm hielt für ihn.
    Also weißt du, Eugen, murrte sie, eure Revolution … wenn da nicht mal Zeit zum Essen ist …
    Karwenzel, noch immer ganz benommen von der akustischen Erscheinung, die ihn ereilt hatte, tunkte seinen Löffel ins Laue und flüsterte: ER, er selbst hat die Sache jetzt in die Hand genommen.
    Wer?
    Der Führer, hauchte Karwenzel, und ein dicker Tropfen Suppe rann ihm unbeachtet übers Kinn.
    Immerhin wurde Eugen Karwenzel einige Wochen später seiner Verdienste wegen auf Drängen der Nationalsozialistischen Reichsbahn-Fachschaft als Schrankenwärter eingestellt und tat fortan an Hans Kaspars Stelle Dienst. Hans Kaspar aber wurde ins Stellwerk versetzt, und nach einigen Monaten war er, wie schon einmal, Leiter desselben, da der bisherige zum Bahnhofsvorstand berufen wurde. Mendel aber war ordnungsgemäß in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Ordnung und Zuverlässigkeit, Präzision und Disziplin, nicht ohne Genugtuung hatte Hans Kaspar registriert, dass sich die Bahn auch unter den neuen Herren treu geblieben war.
    Noch im Jahr 1942, da war Hans Kaspar schon durchs australische Ödland gefahren, erhielt Josef Mendel als pensionierter Eisenbahner einen Freifahrtschein, statt wie seine Mitreisenden vier Pfennige für eine Fahrkarte nach dem damals kaum bekannten Ort Auschwitz bezahlen zu müssen.
    Wenige Tage später gelang es Karwenzel, bei der Auflösung des Mendel’schen Hausrats mehrere Modelllokomotiven nebst Waggons zu ersteigern, die sein Stiefsohn Bertram in den folgenden Jahren Lok für Lok und Wagen für Wagen zum Geburtstag erhielt.
    Aus selbiger Versteigerung gelangte Henriette Brügg endlich zu einem von ihr so heiß begehrten Grammophon nebst einigen Platten, darunter eine mit Richard Taubers edlem Tenor.
    Allerdings erklang nur einmal
Dein ist mein ganzes Herz
durch das Haus, welches die Brüggs nach dem Tod von Charlotte Stickenbacher mit den Mitteln aus der ererbten und veräußerten Tuchfabrik erworben hatten. Erdmuthe, die längst mit eingezogen war, teilte nicht das Lebensmottoihrer Schwester – das Leben gibt, man muss nur nehmen – und brachte Taubers Gesang zum kratzenden Verklingen, als sie vernahm, woher das Grammophon stammte. Denn dies, behauptete sie, sei doch ein Unrecht.
    Die Schwestern gerieten darüber in Streit.
    Er hatte es mir versprochen, entfuhr es Henriette plötzlich.
    Wer?
    Der Mendel.
    Versprochen.
Dir
versprochen?
    Ja, mir, sagte Henriette schnippisch.
    Aha, sagte

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