Der Lavagaenger
eine Schande, eine Schande ist es.
Breit und fett saß dann die Schande am Tisch und stieß ihren schwartigen Finger grinsend in Bertrams Richtung: Du bist gemeint, mein Junge, du, niemand sonst!
So kam es, dass Bertram sich immer ein bisschen schämte, auf der Welt zu sein. Eine Scharte, die man auswetzen musste, die man auswetzen konnte, man musste nur flink sein,hart und zäh. Nicht so einer wie der Karwenzel, vorne große Töne, hinten nur heiße Luft.
So knallte Bertram kühn die Hacken zusammen, als Rosa in Abwesenheit von Eltern und Tante auf die Treppe zum Dachboden wies und sagte: Dort oben spukt jede Nacht der Mendel, wenn du mich liebst, dann geh dort hinauf!
Bertram schlich sich mit klopfendem Herzen und in Begleitung von Rosas Bruder Willi die knarrende Bodentreppe hinauf und über die staubigen Dielen. Still und spinnwebverhangen stand das Grammophon in einer Ecke und ließ sich ohne Gegenwehr in seine Einzelteile zerlegen, hinuntertragen und im Garten unter Kürbisranken vergraben.
Zur Belohnung gab es einen Kuss und das letzte Stück vom Sonntagsbienenstich; Letzteres mit Willi zu teilen.
Eines schönen Herbsttages kam Erdmuthe aufgelöst aus dem Garten ins Haus gelaufen und behauptete, einer der Kürbisse habe ganz deutlich gesungen.
Viele Tage später, im April 1945, führte Willi zwei Soldaten der Roten Armee von den zitternden Frauen weg in den Garten, und bald darauf saßen die zwei, ihre Mützen im Nacken, auf den Treppenstufen und putzten und bauten und setzten schließlich das Mendel’sche Grammophon wieder zusammen.
Derweil lag hinterm Bahndamm Bertram neben einer Panzerfaust und zupfte an der Blüte eines Löwenzahns: Schieß ich oder schieß ich nicht? Glücklicherweise hat ein Löwenzahn viele Blütenblättchen, und bevor er ausgezupft hatte, klang es knacksend und rauschend über den Bahndamm hinweg:
Dein ist mein ganzes Herz
. Kurze Zeit später sah Bertram, übern Damm spähend, wie die beiden Rotarmisten mit ihrer Beute auf die Pritsche eines vorbeifahrenden Militärlastwagens kletterten. Aus Staub undMotorgeboller hörte man sie noch ein kleines Weilchen durch diesen ungewöhnlich milden Vorfriedenstag singen: Dain ißd main ganßen Chärtz.
Willi, sagte Henriette später, ich glaube, du hast die Unschuld deiner Schwester gerettet.
Tja, mit unserer, sagte Erdmuthe, da war nicht mehr viel.
Wir, sagte Henriette, die Anspielung wohl verstehend, wollten das Grammophon ja nur aufheben für den Josef.
Josef Mendel aber kam nie, um sich nach seinem Grammophon zu erkundigen.
Seit Beginn der fünfziger Jahre hing am Bahnhofsgebäude von Krahnsdorf-Brandt eine Bronzetafel, die an den heldenhaften Widerstand des Kommunisten Josef Mendel erinnerte. Anfang der neunziger Jahre vermeldete der
Elbe-Elster-Express
, dass Schüler mit Unterstützung des Gemeindepfarrers herausgefunden hätten, Josef Mendel sei Jude gewesen. Die Stadtverordneten, schrieb der
Express
am nächsten Tag, diskutierten heftig über eine neue Tafel, die Mendels Abstammung hervorheben solle.
Knapp zehn Jahre später wurde gemeldet, dass einige konservative Kirchenratsmitglieder für einen eigenen Gedenkstein sammelten, da es sich bei Mendel um einen getauften Juden, also einen Christen gehandelt habe, weshalb sein Name ja auch in den Kirchenbüchern verzeichnet sei.
Wenig später konnte man in der Rubrik
Die Polizei berichtet
von einer Schändung des Bahnhofs lesen. Unbekannte Täter hatten die Tafel samt Wand mit Graffiti besprüht.
Hätte Bahnhofsfaktotum Ede nicht den Auftrag erhalten, Tafel und Wand mit seinem Wunderschwamm zu säubern, wäre dort vielleicht noch immer zu lesen:
Wann findet ihr heraus: Mendel war ein Mensch!?
Wo stellt man solche Fragen? In einem Stellwerk? Dort stellt man Weichen. Und Hans Kaspar stellte nach Mendels Pensionierung, die ihm tatsächlich wie eine normale erschienen sein mag, die Weichen für Ammoniak und Kohle, Holzspielzeug und Eisenerz, Briefe und Gestellungsbefehle, Ausflügler und Kinder in Uniformen, Militärtransporte und Arbeitsdienstler, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Und das, lieber Helder, müssen wir annehmen: Er hätte die Weichen auch für die Güterwagen voller Menschen nach Buchenwald oder Treblinka gestellt, zuverlässig, präzise, pünktlich.
Wie sollen wir sie nennen, die Gunst, die Hans Kaspar davor bewahrte, war es doch nicht die einer späten Geburt. Es war, vermuten wir, die Gunst einer vergangenen Liebschaft. Und die der Übermüdung
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