Der Lavagaenger
Erdmuthe ahnungsvoll und verzichtete vorerst auf ein
Warum
und
Wieso
. Allerdings bestand sie darauf, das Gerät, so wie es war, auf den Dachboden zu bringen.
Eines Nachts aber begann sich der Plattenteller zu drehen, und aus dem Metalltrichter sang es mit blecherner Stimme durch das häusliche Dunkel
Dein ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein.
Vermutlich, meinte Erdmuthe am anderen Morgen, habe sich das im Gerät gespeicherte Mendel’sche Od entladen und die Platte in Drehung versetzt. Aber warum, aus welchem Grund?
Mag sein, weil Fritz Löhner, Dichter des nächtens erklungenen Liedes, geglaubt hatte, Hitlers Liebe zur Musik sei größer als sein Hass auf Juden, so dass er nicht, wie der Interpret des Liedes, Tauber, rechtzeitig emigriert war. Nur deshalb konnte er einen Tag nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, am 13. März 1938, festgenommen und zwei Wochen später mit dem sogenannten »Promi nententransport Nr. 1« nach Dachau gebracht werden.
Mag sein, weil der Komponist dieses Liedes, Franz Lehar, nachdem er anlässlich seines siebzigsten Geburtstags am 30. April 1940 die dazugehörige Operette mit dem poetischen Namen
Land des Lächelns
in der Wiener Staatsoperdirigiert hatte, seinem anwesenden Verehrer, Adolf Hitler, gegenüber seinen inzwischen in Buchenwald inhaftierten Librettisten nicht erwähnte; sei es aus altersbedingter Vergesslichkeit, sei es, um die entspannt heitere Atmosphäre dieses Abends nicht zu stören.
Mag sein, weil am 4. Dezember 1942 fünf Führungskräften der Interessen-Gemeinschaft Farben, die interessiert ihre Filiale in Auschwitz besichtigten, der Häftling Löhner auffiel, der nicht den erwarteten Eifer zeigte.
Der Jude dort könnte auch etwas rascher arbeiten.
Eine Rüge, die der begleitende SS-Führer noch am selben Abend in ein Todesurteil umwandelte und durch einen Kapo ausführen ließ.
Mag sein. Jedenfalls war es Josef Mendel, der den Erschlagenen auf einen zweirädrigen Wagen laden und zu den Verbrennungsöfen fahren musste. Die Nacht war angefüllt mit dicken weißen Flocken. Das Licht der Lagerlaternen, die aufgeweichten Wege, die Baracken und Wachtürme, alles versank in dem schneeigen Treiben. Die Welt war nur noch Schnee, ein Karren mit einem Toten und einer, der ihn durch die wirbelnde Stille schob. Mendel umklammerte die Deichsel und mühte sich durch die auf und ab tanzenden Flocken. Sie schienen ihm mal sanfte Ballerinen, mal wilde Tänzer, die kalte Küsse auf seine Augen, Wangen und Lippen drückten. Und die sich, wie um auszuruhen, auf dem Toten vor ihm niederließen. Sie wussten nicht, auf wem. Auch Mendel wusste es nicht. Inmitten dieses stummen Tanzes begann Mendel leise zu singen:
Dein ist mein ganzes Herz! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein …
Die Töne drangen kaum vernehmbar über seine Lippen, doch sein Herz war voll davon, voll von einem unbekannten Du, wie von einem Gott. Der aber blieb fern und stumm, vielleicht um nicht schreien zu müssen. Vielleicht aber war Gott sich nicht sicher, ob dieses Lied nicht eine gewisse Henriette meinte.
In dieser Nacht war es gewesen, da Mendels Grammophon, ohne dass auch nur ein Mensch in seine Nähe gekommen wäre, zu spielen begann, Nacht für Nacht.
Henriette, trotz Erdmuthes gelegentlichen Insistierens, schwieg über ihr tatsächliches Verhältnis zu Mendel. Ein anderes Verhältnis aber nahm in diesen Tagen seinen Anfang, jenes zwischen den künftigen Eltern Henri Helders.
Bertram Helder, illegitimes Kind der Lore Helder, inzwischen verehelichte Karwenzel, war damals siebzehn. Er hasste Krautsuppe und seinen Stiefvater. Er war zu der Zeit heftig in Rosa verliebt und saß manchmal mit Karwenzels Fernglas auf dem Dachboden in der Leipziger Straße, da man durch das Dachfenster ein gutes Stück des Brügg’schen Hofs und mit etwas Glück die Rosa erspähen konnte.
Hin und wieder war er sogar im Haus am Bahndamm zu Gast.
Er fühlte sich dort wohl, natürlich Rosas wegen und weil dort niemand auch nur eine Andeutung über seine uneheliche Geburt machte.
Zu Hause kam es vor, insbesondere wenn Karwenzel auf einer seiner zahlreichen Versammlungen weilte, dass Bertram hängenden Kopfes am Tisch saß und hören musste, wie sehr seine Mutter sich doch damals geschämt hätte wegen des dicken Bauchs, wegen des Sauhundes von Kerl, der sich totgesoffen hatte, bevor er sie hatte heiraten können. Und nun, zeterte sie, rennt der Karwenzel auch immer in die Kneipe. Es ist
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