Der Lavagaenger
Fisch von der Nordsee, Stahl aus dem Rheinland, Briefe aus Breslau und Münchner Bier, Kartoffeln, Möbel, Eisenerz und hin und wieder Stickenbacher Tuche aus Cottbus. Und natürlich Menschen: Wintersportler und Sommerfrischler, Geschäftsreisende und Ausflügler, Einkäufer und Ausschenker, Bankangestellte und Sopranistinnen vom Theater, Verwaltungsbeamte, Verwandtenbesucher, dösende Dichter, Diakonissen, unter großen Hauben verborgen, Messebesucher, müde Fließbandarbeiter, auch Reichspräsidenten in Sonderzügen, lärmende Schulklassen, polnische Schnitter, Liebespaare, ineinander verkrochen, Großfamilien, die ganze Abteile belegten, einsame Damen und alleinstehende Herren, eben die Welt. Vor allem an Sonntagen fuhren immer öfter vollbesetzte Züge mit vorwiegend jungen, vorwiegend männlichen und vorwiegend uniformierten Reisenden nach Berlin oder, nach Umstellen der Wagen in Krahnsdorf-Brandt, nach Leipzig, oft auch weiter nach Halle. Mal grüßte man Hans Kaspar mit der geballten Faust, mal mit der flachen erhobenen Hand. Er beließ die seine stets, wie es Vorschrift war, am Mützenrand. Eines Tages aber wurde nur noch mit der flachen Hand gegrüßt. Das war in der Zeit, da machte eines Montagmorgens Hans Kaspars ehemaliger Kollege Karwenzel Revolution in Krahnsdorf-Brandt.
Eugen Karwenzel hatte Mitte der Zwanziger seine Arbeit als Weichenwärter verloren, weil, wie er sagte, derEngländer und der Franzose jährlich eine Million Goldmark als Reparationen aus dem Unternehmen saugen würden. Bereits 1929 hatte sich Karwenzel – irgendwas muss man ja machen – den Sturmabteilungen des ehemaligen Gefreiten Adolf Hitler angeschlossen und war schon bald zum Scharführer avanciert.
Hans Kaspar sah ihn an dem im Reif erstrahlenden Morgen des 13. Februar 1933 in Reithosen und frisch gewichsten Stiefeln aus dem Haus treten und, wie eine Lokomotive Dampfwolken ausstoßend, zum Bahnhof marschieren, um Mendel seines Amtes zu entheben. Wie am Vorabend in der Bahnhofswirtschaft abgesprochen, stießen an der Ecke Leipziger/Tannenbergstraße zwei Gefolgsleute zu ihm.
Auch Hans Kaspar, der an diesem Tag Spätschicht hatte, hätte dabei sein sollen, denn Karwenzel wollte bei seiner Revolution gern jemanden hinter sich wissen, der eine Uniform der Deutschen Reichsbahn trug.
Hat dich Mendel, der Novemberverbrecher, nicht 18 aus dem Stellwerk geschmissen? Hat er oder hat er nicht? Er hat. Also, was zögerst du?
Mensch, Eugen, sagte Hans Kaspar, das ist gegen die Vorschrift.
Scheißvorschrift, ab morgen bin ich hier die Vorschrift. Entscheide dich!
Henriette meinte später, als Hans Kaspar zu Hause von dem Gespräch berichtete, es könne nicht schaden, der neuen Bewegung ein wenig zu Diensten zu sein. Sicher, er müsse sich nicht in den Vordergrund drängen, doch dem Karwenzel jetzt etwas abzuschlagen, sei nicht sehr klug. Hans Kaspar aber führte wieder die Dienstvorschriften ins Feld, schlafen konnte er dennoch nicht. So hatte er unruhig schon seit sechs Uhr am Fenster gestanden und vergebens gehofft, dass Karwenzel seinen kühnen Entschluss im ernüchterten Zustand nicht wahr machen werde. Dochder machte, so wie immer welche da sind, die machen, wovor wir uns fürchten.
Karwenzel hatte sich eine kleine Rede zurechtgelegt, die er beim Eintritt in Mendels Büro halten wollte. Doch als die drei braun behemdeten Vertreter der neuen Zeit gegen acht Uhr durch die Tür stürmten, saß Mendel nicht an seinem Platz. Nicht ohne Enttäuschung setzte sich Karwenzel hinter Mendels Schreibtisch, während seine Helfer ihre Rücken an den frisch angeheizten Kachelofen drückten. Karwenzel wartete und betrachtete Mendels kleine Sammlung von Eisenbahnmodellen.
Er musste darüber ins Träumen geraten sein, denn plötzlich stand Mendel, der von seinem morgendlichen Rundgang zurück war, im Zimmer und fragte nicht ohne Erregung, was sich Karwenzel erlaube. Der schrak hoch, vergaß, von Deutschlands Erneuerung zu reden, und sagte nur: Jetzt sind wir dran, Mendel!
Da, wie Mendel bemerkte, ohne entsprechende Dienstanweisung er auf seinem Platz verbleiben würde, brüllte Karwenzel etwas vom Ende der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung und befahl seinen Gehilfen, Mendel bis auf Weiteres in der Gepäckaufbewahrung zu arretieren.
Für eine halbe Stunde war Eugen Karwenzel der glücklichste Mensch von Krahnsdorf-Brandt. Der Kachelofen bullerte, Karwenzel saß am Schreibtisch vor einem frisch gebrühten Kaffee und schob Mendels kleine
Weitere Kostenlose Bücher