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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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ich sonst nur für Damen nähe. Ist ja schließlich dein Vorgesetzter, der Mendel.
    Ach, hast du am letzten Sonntag deshalb so oft mit ihm getanzt, weil er mein Vorgesetzter ist? Da pfeif ich drauf! Und du tust das gefälligst auch!
    So war man im lauter werdenden Gespräch von der rechten Kindeserziehung zu ehelicher Treue und Liebe gelangt. Henriette sah sich jetzt veranlasst, wieder einmal ihre Eifersucht auf Schwester Erdmuthe kundzutun.
    Aber du, brachte Hans Kaspar nicht ohne Hohn heraus, hast sie mir doch selber ins Hochzeitsbett gelegt!
    Das weißt du?
    Schon immer.
    Hat sie es dir verraten?
    Sie? Nein. Aber habt ihr denn geglaubt, ich hätte nichts gemerkt?
    In diesem Moment fiel Henriettes wie auch Hansens Blick auf das Kind, das, drei, vier grüne Bonbons in der kleinen Hand, vielleicht im Glauben, dies könne die streitenden Eltern versöhnen, sich die scharfen Dropse mit Todesverachtung in den Mund schob.
    Gerührt von so viel Opfermut umarmten sich Hans Kaspar und Henriette, verfielen ins Küssen und Streicheln, zogen einander an den Sachen und sich über das blanke, von Messerschnitten und heißen Tiegeln gezeichnete Holz des Tisches. Seine Hose sackte zu Boden, und ihr Schlüpfer hing alsbald an einem Haken zwischen Kellen und Gabeln. Röschen applaudierte, als die Frau, die für sie noch immer ihre Mama war, oben auf dem Küchentisch rittlings auf dem Papa saß. Doch dann bekam sie Angst, weil beide gar so schmerzlich stöhnten, als seien sie am Sterben, und lief weinend hinaus.
    Als Rosa wenig später mit der Nachbarin, die das Kind im Treppenhaus aufgegriffen hatte, in der Tür stand, da war man schon beim Ordnen der Kleider. Hans Kaspar hielt das erhitzte Gesicht unter den Wasserhahn, und Henriette griff sich die nächste der geduldig wartenden Möhren. An der Suppenkelle baumelte noch ein einsamer Schlüpfer und veranlasste die Nachbarin zu einer gewiss nicht schwierigen kombinatorischen Leistung. Sie murmelte etwas von armen Kindern und Verderbtheit der Sitten, machte kehrt und schlappte davon.
    Die Nachbarin mochte sich ein Dreivierteljahr später noch einmal an den Vorfall erinnert haben, als aus derBrügg’schen Wohnung das Geschrei eines Neugeborenen klang. Für Rosa, die keine Verbindung zwischen beiden Ereignissen herzustellen vermochte, reihte sich die elterliche Kavalkade in ihre Sammlung der Mysterien des Erwachsenenlebens ein, wo sich Lust und Schmerz, Liebe und Hass, Gut und Böse immer wieder miteinander vermischten.
    Henriette, nun auch mit einem Kindchen beschenkt, sah sich fortan von der Schwester nicht mehr übertrumpft, freute sich wieder über die häufigen Besuche Erdmuthes, und Hans musste ihnen, besiegelt mit Handschlag und Kuss, versprechen, die Beschaffung einer anderen Wohnung zu betreiben, groß genug für zwei Kinder und zwei Mütter.
    Doch noch mangelte es nicht nur an Platz, es mangelte vor allem an Geld für mehr Platz. Zwar war Hans Kaspar von der Deutschen Reichsbahngesellschaft wieder eingestellt worden, doch lediglich als Schrankenwärter. Gewiss, man hatte zu essen, doch gab es nicht auch Dinge, die das Leben schöner und angenehmer machten? Ein Grammophon beispielsweise, wovon Henriette nicht aufhörte zu schwärmen. So eines, wie es der Herr Mendel besäße.
     
    In Krahnsdorf-Brandt kreuzte die Strecke Dresden–Ber lin mit der aus Bremen über Magdeburg nach Breslau führenden sowie der von Cottbus über Leipzig nach Frankfurt am Main. Daher pflegte Mendel, inzwischen Bahnhofsvorsteher, zu sagen: Durch unsren Bahnhof reist die Welt.
    Wer von Lissabon nach Moskau fährt, wird an Ihnen vorüberfahren, sagte Mendel zu jedem seiner Untergebenen, dem ein Uniformknopf in ungebührlicher Weise offen stand oder den er auf einen durch Staub verminderten Glanz der Schuhe hinwies. Auf Hans Kaspar konnte Mendel sich allerdings nicht nur hinsichtlich einer vorschriftsmäßigen Anzugsordnung verlassen. Ja, es schien Hans Kaspars Ehrgeiz, Mendel täglich aufs Neue zu beweisen,dass der ihn in den revolutionären Zeiten des Verkehrsausschusses zu Unrecht seines Amtes enthoben hatte. Wurde ein Zug gemeldet, setzte Hans Kaspar seine Dienstmütze auf und schloss die Schranken, dann nahm er das stets polierte Signalhorn in die Hand und postierte sich neben seinem Schrankenwärterhäuschen.
    Was fuhr nicht alles an Hans Kaspar vorüber: Holzspielzeug aus Seiffen, Bautzener Senf und Maybach-Automobile vom Bodensee, Kohle aus der Lausitz und Kesselwagen mit Ammoniak aus Leuna,

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