Der Lavagaenger
auf die Blechdächer der Waggons. Vierte Klasse, nach Reichsbahnstandard, Holzbänke, an beiden Enden offen der Durchgang zum nächsten Waggon. Der Fahrtwind bringt kaum Kühlung, dafür den rauchigen Geruch der Lok. So könnte es gewesen sein.
Eine Dampflok, ja, keine Diesellok, behaupten wir weiter, obwohl Mo davon nicht sprach. So mischt sich in dem vollbesetzten Wagen der Geruch eines kohlebefeuerten Kessels mit dem dumpfen Geruch von altem Schweiß, der in den Kleidern der Gefangenen zusammen mit einem winzigen Rest Meeresluft hängt.
Nach siebenundfünfzig Tagen auf See hatte die
Dunera
am 6. September den Hafen von Sydney erreicht. In Empfang genommen und zum Bahnhof eskortiert von Reservisten und Erste-Weltkriegs-Veteranen der australischen Armee, wurden die Internierten in verschiedene Lager verfrachtet.
An den Enden jenes Waggons, in dem wir Mo und Hans Kaspar vermuten, hatte sich je ein Soldat postiert. Der ältere mit sonnenverbranntem Bauerngesicht dreht mit groben Fingern, doch geschickt das Rütteln und Stoßen des Wagens ausbalancierend, eine Zigarette und bedeutet den unfreiwillig Mitreisenden, dass auch ihnen Rauchen erlaubt sei. Doch nur wenige zogen eine Zigarette, aus deren Papier die letzten Krümel Tabak zu rieseln drohten, aus ihren Taschen. Die anderen schnüffelten gierig nach den sanftblauenRauchfähnchen oder lauerten auf die glühende Kippe des Nachbarn, die dem schon die Finger versengte. Da erbarmte sich der Australier und verteilte großzügig Tabak und Papier aus einem ledernen Beutel.
So beschreiben Augenzeugen, von denen Mo einer war, die Fahrt durch die wüstenähnliche offene Landschaft, vorbei an vereinzelten Farmen, deren Windräder das notorisch knappe Wasser aus der Erde pumpen, und hie und da ein paar Bäumen, von den Farmern eines breiten Rindenstreifens beraubt, dadurch verdorrt und unfähig, den Viehherden und ihren Weiden die spärlichen Niederschläge wegzutrinken.
Dann am Horizont ein ganzer Wald, blau von Ferne und vom ausdünstenden ätherischen Öl, dessen Name Eukalyptus, von einem Kundigen durch den Waggon gerufen, Hans Kaspar für einen Moment den erfrischenden Geschmack von Bonbons auf die rauchgebeizte Zunge getrieben haben könnte und damit auch die Erinnerung herauf: an Schwester Carla, die derlei Raritäten in einer Blechbüchse verwahrte, die bemalt war mit Mohren, Kamelen und anderen Insignien eines märchenhaften Orients. Und während Berliner Kommunisten, orthodoxe Wiener Juden und Münchner Schwule ans Fenster stürzen, um das erste Mal in ihrem Leben wild lebende Kängurus – eine ganze sich minutenlang mit dem Zug ein Wettrennen liefernde Herde – zu bestaunen, sehen wir einen konfessions- und parteilosen, heterosexuellen Eisenbahner zweifelhafter Abstammung auf der harten Holzbank sitzen und über Süßigkeiten sinnieren. Vielleicht – so wie wir, Helder – auch darüber, was ihn wegtrieb von zu Hause.
Ihm mag dabei in den Sinn gekommen sein, wie seine dreijährige Tochter Rosa einen der grünen Eukalyptusdrops noch ungeschickt aus der klebrigen Masse der anderen polkte und ihn erwartungsvoll in den Mund steckte, um ihn wenige Augenblicke später mit einem Ausdruck höchstenUnbehagens über die kleine glänzende Unterlippe zu schieben und aufs abgewetzte Linoleum der Brügg’schen Küche fallen zu lassen.
Henriette hatte, Möhren schabend, am Tisch gesessen und über den harmlosen Vorfall gelacht. Hans Kaspar, bedeppert, warf ärgerlich die Schachtel auf den Tisch und klaubte den Bonbon vom Küchenboden, spülte ihn kurz überm schadhaften, aber sauberen Emaille des Ausgussbeckens ab und schob ihn sich selber in den Mund. Lutschend und zutschend belehrte er seine Familie, dass nichts weggeworfen werde, schon gar nicht in diesen Zeiten. Daraufhin folgte der in der Brügg’schen Zweizimmerwohnung nicht selten mal von der einen, mal von der andere Ehepartei angebrachte Vorwurf mangelnder Strenge in der Erziehung.
Ah, ja, sagte Henriette, wenn du doch endlich, wie unsere Mutter schon lange drängt, im Kontor der Stickenbacher Tuche anfingest, dann müsste ich nicht fremder Männer Hosen nähen und hätte mehr Zeit für unser Röschen. Aber du, du liebst ja nur die Eisenbahn!
Hoho, antwortete Hans Kaspar, fremder Männer Hosen, das klingt, als schickte ich dich auf den Strich. Wie ist denn das, wenn du den Herren maßnimmst für ihre Buchsen?
Es war ja nur die eine, sagte Henriette, hätte ich den Mendel vielleicht wegschicken sollen, weil
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