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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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eines Postbeamten in einer Vorsommernacht 1940, der versäumte, die Karte mit den arabischen Schriftzeichen in jenes Fach einzusortieren, dessen Inhalt ein Geheimer Staatspolizist gründlicher zu inspizieren hatte.
    Als Henriette Brügg wie üblich dem Postboten entgegenging, wie immer in der frohen Hoffnung, das Schicksal könnte ihr etwas Gutes zusenden, da schien jedoch plötzlich das Ende dessen besiegelt, was sie noch Jahrzehnte später, zumindest im privaten Kreis, als
die glücklichen Jahre am Bahndamm
beschwor. Jahre, in denen Rosa und Willi herangewachsen waren, sich, wie man gerne gelegentlich sagte, in der Schule gut machten, wo sie neben der deutschen Rechtschreibung auch erlernten, Menschen ebenso nach Rassen zu unterscheiden wie der Nachbar seine Hühner: Sachsen- und Kaulhühner, Brabanter und bergische Kräher. Während Henriette die kleine Uniformhose ihres Willi hingebungsvoll übers Bügelbrett schob, redete Erdmuthe ihrer Tochter Rosa eine asthmatische Anfälligkeit ein: Du hustest so, Kind. Oder: Nu, japs doch nicht so.
    Sie bedrängte Hans Kaspar, da sie selber, offiziell wie für die Kinder, noch immer nur die Tante war, dem Kind zumindest mehrtägige Lageraufenthalte nicht zu gestatten. Rücksicht nehmen die doch nicht. Sie haben ihr neulich erst auf dem Fuß rumgetrampelt. Erdmuthe fürchtete aber, das martialische Lagerleben könnte Zarteres zertreten als nur Rosas Zehen.
    Henriette schüttelte dazu nur den dunkellockigen Kopf, nicht weil sie kleine vorteilschaffende Lügen grundsätzlich verdammte, sondern weil sie diese für eine nachteilbringende hielt. Doch derlei schwesterliche Unstimmigkeiten blieben die Ausnahme, so dass ein zweifach weibliches Sorgen das Brügg’sche Heim in einen Glanz hüllte, der nicht nur vom Putzen rührte.
    Nun also saßen die Schwestern am Küchentisch und rätselten über eine Postkarte, weniger über den von einem Zug befahrenen Viadukt auf der Vorderseite, als über den in ihnen unbekannten Zeichen verfassten Text auf der anderen. Lediglich An- und Unterschrift waren in lateinischen Buchstaben geschrieben und konnten von den Frauen entziffert werden.
    Si…ya…kuu, das ist ein Frauenname.
    Ein Frauenname?
    Ja, Henriette, klingt wie der Name einer Frau.
    Er hat ja immer sehr geheimnisvoll getan. Weißt du noch, wie wir durch die Schwanenweiden liefen und er von seiner Bagdadbahn erzählte.
    Stimmt. – Oh, ich habe es geahnt, ich habe es immer geahnt, der hat damals da unten was gehabt mit einer.
    Gehabt wäre schon gut. Aber was, wenn er noch hat? Was die wohl schreibt?
    Gib her, ins Feuer damit!
    Nicht, Henriette, dann erfahren wir nie, was draufsteht!
    Dann soll er uns vorlesen. Soll er. Da werden wir sehen.
    Als Hans Kaspar nach Hause kam, fiel sein Blick sogleich auf die Karte, er drehte und wendete sie, dann steckte er sie ein, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.
    Wusste gar nicht, dass du Arabisch kannst?
    Türkisch.
    Und?
    Was und? Ich habe doch gesagt, das ist Türkisch. Geschrieben in arabischen Zeichen. Das war damals so.
    Willst du nicht lesen?
    Später.
    Wann später?
    Na, dann später.
    Später saß Hans Kaspar allein auf den Stufen des Hauseingangs und las. Er las, so jedenfalls erschien es den Schwestern, sehr lange. Dann stieg er, was er sonst nie tat, über den Bahndamm und lief, wie die Schwestern vom Fenster im Dachgeschoss aus beobachteten, durch die Felder, lief zwischen blühendem Raps und jungem Mais wohl mehr als eine Stunde lang.
    Als er zurückkam, zog er unterm Bett im Schlafzimmer ein Paar alte Schuhe hervor, Schuhe, die Helder sehr viel später an den Füßen tragen sollte. Hans Kaspar entstaubte sie, fettete sie gründlich ein und brachte sie anschließend mit einer Bürste zu einem milden, honiggelben Glanz. Während er schuhputzend auf der Haustreppe saß, kam mal Erdmuthe, mal Henriette wie zufällig auf dem Weg in den Garten oder in den Schuppen vorbei. Was ihr Hans da trieb, war ihnen nicht geheuer.
    Du hättest die Schuhe längst in die Aschegrube werfen sollen, sagte die eine zur andern. Hätte ich? Hättest du doch ebenso. Als ob es die Schuhe wären.
    Und, wenn er wegwill?
    Wo soll er denn hinwollen?
    Sie schickten Willi hinaus, damit er herausfinde, was sein Vater wohl vorhabe. Willi setzte sich neben seinen Vaterund besah sich die Schuhe. Sacht strich er über die ins Leder geprägten Schriftzeichen.
    Ein schönes Muster …
    Kein Muster, knurrte Hans Kaspar unwillig, dann besann er sich. Also: Ich hatte einmal

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