Der Lavendelgarten
dass es Zeit war für die morgendlichen Verrichtungen.
Emilie machte sich in der Küche einen Kaffee und ging damit in die Bibliothek. Der Raum mit der hohen Decke, in dem die Vorhänge immer zugezogen waren, um die Bücher zu schützen, roch auf vertraute Weise muffig. Emilie stellte die Kaffeetasse auf die Lederarbeitsfläche des verschrammten Schreibtischs, trat an ein Fenster und öffnete einen der Läden. Unzählige Wollmäuse wurden durch den unvermittelten Lufthauch aufgewirbelt.
Von der Fensternische aus ließ Emilie den Blick über die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherregale wandern. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Bände sich in der Bibliothek befanden. Ihr Vater hatte den größten Teil seiner späteren Jahre damit verbracht, die Sammlung zu katalogisieren und zu erweitern. Sie erhob sich und durchquerte einmal langsam den Raum, dessen Wände bis in vierfache Höhe ihrer Körpergröße mit Büchern bedeckt waren. Dabei hatte sie das Gefühl, von ihnen beobachtet zu werden.
Emilie erinnerte sich an das Spiel mit ihrem Vater, bei dem sie zwei Buchstaben des Alphabets in beliebiger Kombination wählen musste. Dann sah sich ihr Vater in der Bibliothek nach einem Werk um, das mit diesen Buchstaben begann. Nur sehr selten war es ihm nicht gelungen, ein Buch mit den von Emilie genannten Initialen zu finden. Selbst wenn sie es mit X und Z versuchte, zog ihr Vater irgendwo einen verblichenen, abgegriffenen Band mit chinesischer Philosophie oder eine schmale Anthologie von einem lange vergessenen russischen Poeten hervor.
Emilie wünschte sich nun, dass sie besser auf die eklektischen Methoden ihres Vaters, die Bücher zu katalogisieren und zu sortieren, geachtet hätte. Beim Betrachten der Regale wurde ihr klar, dass die Ordnung nicht einfach nur alphabetisch war. In dem vor ihr standen Bücher von Dickens bis Platon und Guy de Maupassant.
Die Sammlung war so groß, dass die Katalogisierung in den Kladden ihres Vaters mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs darstellte. Édouard hatte fast immer gewusst, wo er nach einem Buch suchen musste, dieses Wissen jedoch mit ins Grab genommen.
»Was soll ich nur mit euch anfangen, wenn ich dieses Haus tatsächlich verkaufe?«, flüsterte sie den Büchern zu.
Sie erwiderten stumm ihren Blick; Tausende verlassener Kinder, deren Zukunft in ihren Händen lag. Emilie riss sich von ihren Vergangenheitsträumen los. Sie durfte sich nicht von ihren Emotionen leiten lassen. Wenn sie beschloss, das Château zu verkaufen, musste sie für die Bücher ein neues Zuhause finden. Sie schloss den Fensterladen, so dass die Bände wieder in düsteren Schlummer versanken, und verließ den Raum.
Den Rest des Morgens brachte Emilie damit zu, die zahllosen Nischen und Winkel des Châteaus zu erforschen. Plötzlich wusste sie ein zweihundert Jahre altes Fries an der Decke des prächtigen Salons ebenso zu würdigen wie die eleganten, aber abgenutzten französischen Möbel und die zahlreichen Gemälde an den Wänden.
Mittags holte Emilie sich ein Glas Wasser aus der Küche. Als sie es durstig leerte, merkte sie, wie aufgeregt sie war, als wäre sie aus einem Albtraum erwacht. Die Schönheit, die ihr an jenem Vormittag so klar bewusst geworden war, hatte sie ihr ganzes Leben lang umgeben, ohne dass sie sie geschätzt hätte. Zum ersten Mal empfand sie ihr Erbe und ihre Herkunft nicht mehr als Last, von der sie sich befreien wollte.
Dieses wunderbare Haus mit seinen unzähligen herrlichen Objekten gehörte ihr .
Hungrig geworden suchte Emilie in Kühlschrank und Küchenschränken nach etwas Essbarem, ohne Erfolg. Also klemmte sie Frou-Frou unter den Arm, setzte sie neben sich in den Wagen und fuhr nach Gassin. Nachdem sie das Auto abgestellt hatte, erklomm sie die uralten, steilen Stufen durch den Ort zu der Hauptstraße, an der sich die Bars und Lokale befanden, und setzte sich an einen Tisch am Rand der Terrasse, von wo aus sie den spektakulären Blick auf die Küste genießen konnte. Sie bestellte eine kleine Karaffe Rosé sowie den Salat nach Art des Hauses und dachte in der mittäglichen Sonne nach.
»Entschuldigen Sie, Mademoiselle, sind Sie Emilie de la Martinières?«
Emilie beschattete ihre Augen mit der Hand und hob den Blick.
»Ja.« Sie sah den Mann, der neben ihrem Tisch stand, erstaunt an.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Der Mann streckte ihr die Hand hin. »Ich heiße Sebastian Carruthers.«
Emilie nahm zögernd seine Hand. »Kenne ich
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