Der Lavendelgarten
Sie meinen …« Sebastian sah sie erstaunt an. »Natürlich würde ich es gern sehen, besonders mit jemandem, der das Haus so gut kennt wie Sie.«
»Dann steigen Sie ein.« Sie beugte sich hinüber und entriegelte die Beifahrertür.
»Danke«, sagte er, als er sie hinter sich schloss. »Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich Sie aus der Fassung gebracht habe. Können Sie mir vergeben?«
»Sebastian«, seufzte sie, »es war nicht Ihre Schuld, sondern meine. Jegliche Erwähnung meiner Familie in diesem Zusammenhang wirkt bei mir wie ein Trigger. Ich muss lernen, damit umzugehen.«
»Solche Trigger haben wir alle, besonders wenn wir mit berühmten, mächtigen Verwandten und Vorfahren gesegnet sind.«
»Meine Mutter hatte tatsächlich eine starke Persönlichkeit«, pflichtete Emilie ihm bei. »Ich muss in ziemlich große Fußstapfen treten. Und mir ist seit jeher klar, dass ich sie nicht ausfüllen kann.«
Emilie fragte sich, ob die zwei Gläser Wein ihre Zunge gelöst hatten, denn plötzlich fühlte sie sich nicht mehr unwohl bei ihren Geständnissen.
»Das kann ich von meiner Mum oder ›Victoria‹, wie wir sie nennen mussten, nicht behaupten«, erklärte Sebastian. »Ich erinnere mich nicht einmal richtig an sie. Sie hat mich und meinen Bruder in einer Hippie-Kommune in den Staaten zur Welt gebracht. Als ich drei und mein Bruder zwei war, ist sie mit uns nach England gereist und hat uns bei unseren Großeltern in Yorkshire abgeladen. Ein paar Wochen später ist sie verschwunden. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört oder gesehen.«
»O Sebastian!«, rief Emilie schockiert aus. »Sie wissen nicht einmal, ob Ihre Mutter noch lebt?«
»Nein. Aber unsere Großmutter Constance war wie eine Mutter für uns. Meine leibliche Mutter würde ich wohl, wenn sie sich mit mir in einem Raum voller Menschen befände, nicht erkennen.«
»Sie können von Glück sagen, dass Sie eine solche Großmutter hatten, aber trotzdem ist es eine traurige Geschichte«, meinte Emilie. »Und Sie wissen nicht, wer Ihr Vater ist?«
»Nein. Nicht einmal, ob mein Bruder und ich denselben Vater haben. Wir sind sehr unterschiedlich. Aber egal …« Sebastian blickte aus dem Fenster.
»Haben Sie Ihren Großvater gekannt?«
»Er ist gestorben, als ich fünf war. Er war ein guter Mann, im Krieg in Nordafrika und durch seine Verwundungen aus der Zeit ziemlich eingeschränkt. Meine Großeltern haben einander sehr geliebt. Meine arme alte Oma hat nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch ihre Tochter. Ich glaube, wir Enkel haben sie am Leben erhalten«, erklärte Sebastian. »Sie war eine erstaunliche Frau, hat noch mit fünfundsiebzig Bruchsteinmauern hochgezogen und war bis kurz vor ihrem Tod gesund und munter. Menschen wie sie sind selten«, stellte er traurig fest. »Tut mir leid, ich rede zu viel.«
»Nein, nein. Es tröstet mich zu hören, dass auch andere Leute ihr Päckchen zu tragen haben. Manchmal …«, Emilie seufzte, »… habe ich das Gefühl, dass zu viel Vergangenheit genauso schlimm ist wie gar keine.«
»Da pflichte ich Ihnen bei.« Sebastian schmunzelte. »Oje, wenn jemand dieses Gespräch belauschen könnte, würde er uns bestimmt für verwöhnte, larmoyante Snobs halten. Immerhin haben wir beide ein Dach über dem Kopf.«
»Ja. Solche Gedanken kann ich den Menschen nicht verdenken. Sie sehen nicht, was sich hinter der Fassade verbirgt. Schauen Sie …«, sie deutete. »… da drüben ist das Château.«
Als Sebastians Blick auf das elegante, rötliche Gebäude in dem Tal unter ihnen fiel, stieß er einen leisen Pfiff aus. »Es ist wunderschön und genau so, wie meine Großmutter es mir beschrieben hat. Ganz anders als unser Familienanwesen im düsteren Moor von Yorkshire. Obwohl die Kargheit der Umgebung Blackmoor Hall auf andere Weise spektakulär macht«, fügte er rasch hinzu.
Emilie lenkte den Wagen am Château vorbei, stellte ihn dahinter ab und stieg aus.
»Sind Sie sicher, dass Sie Zeit für mich haben?« Sebastian sah sie an. »Ich kann auch gern ein andermal vorbeikommen.«
»Das ist schon in Ordnung«, versicherte Emilie ihm, als sie mit Frou-Frou und Sebastian das Château betrat.
Sie führte Sebastian von Raum zu Raum und beobachtete, wie er immer wieder stehen blieb, um Gemälde, Möbel und Kunstgegenstände zu bewundern, die unbeachtet auf Kaminsimsen, Kommoden, Sekretären und Tischen verstaubten. Im Frühstückszimmer steuerte Sebastian schnurstracks auf ein Gemälde zu.
»Das
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