Der Lavendelgarten
vergessen. Sie war mir ans Herz gewachsen. Nach zwei Wochen innerem Kampf beschloss ich, noch einmal zu dem Waisenhaus zu fahren, um nachzusehen, ob Victoria bereits adoptiert worden war. Wenn ja, war es Gottes Wille, und ich würde nicht nach ihr suchen. Aber natürlich war sie noch da.« Jacques schüttelte den Kopf. »Victoria war inzwischen über vier Monate alt. Als sie mich sah, leuchteten ihre Augen; sie erkannte mich sofort. Sie lächelte … Emilie, sie lächelte mich an.« Jacques legte den Kopf in die Hände. »Da war es um mich geschehen.«
Er schwieg eine Weile, und Jean legte tröstend den Arm um ihn.
»Auf der Heimfahrt habe ich überlegt, was ich tun könnte. Natürlich wäre es eine Möglichkeit gewesen, sie selbst zu adoptieren, doch das hielt ich nicht für die richtige Lösung. Männer hatten damals nicht die geringste Ahnung, wie man mit Babys umgeht, und Victoria brauchte die liebenden Hände einer Mutter. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wer aus der Gegend sie nehmen könnte. Am Ende fiel mir eine geeignete Person ein. Sie hatte bereits ein Kind – ich kannte sie, weil ihr Mann vor dem Krieg während der Weinlese für mich gearbeitet hatte. Als ich sie besuchte, erfuhr ich, dass ihr Mann noch nicht aus dem Krieg zurück war und sie nichts von ihm gehört hatte. Sie und das Kind waren, wie so viele nach dem Krieg, kurz vor dem Verhungern. Aber sie war ein guter Mensch und eine fürsorgliche Mutter. Ich fragte sie, ob sie bereit wäre, ein Mädchen zu adoptieren. Anfangs weigerte sie sich natürlich, weil sie kaum ihr eigenes Kind satt bekam, doch als ich ihr eine beträchtliche Summe Geld bot, sagte sie Ja.«
»Papa, woher hattest du das Geld?«, fragte Jean. »Ich weiß, dass du nach dem Krieg bettelarm warst.«
»Ja, das stimmt.« Jacques sah Emilie an. »Ihr Vater hatte mir vor seiner Abreise nach Paris und nach Constances Rückkehr nach England etwas gegeben. Vielleicht um Abbitte zu leisten dafür, dass er das Kind nicht bei sich aufgenommen hatte. Ich habe damit einen Schwarzmarkthändler aufgesucht und ihn gebeten, mir seinen Wert zu nennen, weil ich Geld für die Frau brauchte, die bereit war, Victoria zu adoptieren.«
»Was hat mein Vater Ihnen gegeben, Jacques?«, fragte Emilie.
»Ein Buch, von dem er wusste, dass ich es liebte, ein sehr altes Buch mit wunderschönen Abbildungen. Er hatte den zweiten Band dazu gefunden und das Set komplettiert – Emilie, Sie erinnern sich bestimmt, dass er es uns durch den Kurier Armand bringen ließ, als Beweis für seine geglückte Flucht. Und dass Édouard es Constance nach England mitgegeben hatte?«
»Ja«, antwortete Emilie. » Die Herkunft französischer Obstsorten .«
»Genau«, bestätigte Jacques. »Mir war klar, dass mein Buch, Band eins, sehr selten und sehr alt war. Ich konnte dafür genug Geld für die Frau bekommen, die Sophias Baby bei sich aufnahm. Bitte vergeben Sie mir, Emilie. Ich hätte das Geschenk Ihres Vaters nicht verkaufen dürfen. Aber es hat seiner Nichte eine Zukunft ermöglicht.«
»Jacques, ich könnte mir keinen besseren Verwendungszweck für das Buch vorstellen«, versicherte Emilie.
»Wie viel hast du dafür bekommen?«, erkundigte sich Jean.
»Zehntausend Francs«, antwortete Jacques. »Was damals, als so viele hungerten, ein Vermögen war. Ich habe der Frau sofort tausend Francs gegeben und ihr gesagt, dass sie jährlich weitere fünfhundert erhalten würde, bis das Mädchen sechzehn wäre. Ich konnte nicht riskieren, ihr gleich das ganze Geld zu geben, weil ich sichergehen wollte, dass sie sich ordentlich um die Kleine kümmert. Die Frau wusste nichts über die Herkunft des Kindes, dafür habe ich gesorgt. Sie hat mich gefragt, ob sie Victoria den Namen ihrer Mutter geben darf.«
»Und du hast Ja gesagt?«, fragte Jean.
»Ja. Meine Entscheidung hat sich als Glücksgriff erwiesen. Als die Kleine fünf Jahre alt war, wollte die Frau kein Geld mehr für sie. Ihr Mann war wieder da, und sie mussten nicht mehr hungern. Sie sagte, weil sie das Kind wie ihr eigenes liebe, hätte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie etwas verlange. Ich war sehr froh, dass ich die richtige Frau ausgewählt hatte. Emilie, das Kind Ihrer Tante hätte kein besseres Zuhause finden können.«
»Danke, auch im Namen meiner Tante und meines Vaters. Jacques, verraten Sie mir nun, wer das Kind ist? Wie es heißt?«
»Ihr Name ist …«
Jacques schluckte.
»Ihr Name ist Margaux.«
35
Die drei sannen über das nach, was
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