Der Leibarzt der Zarin
anblasen, als wäre er der Wind? Du bist ein gelehrter Mann – such nach einem anderen Mittel!«
»Es gibt nichts, was die Natur ersetzen könnte. Xenia muß nach oben – in die Sonne.«
»Unmöglich!« schrie Massja. »Wir dürfen nicht hinauf. Der Zar hat es verboten!«
»Was kümmert mich der Zar! Ich will Xenia heilen!«
»Ist es eine Heilung, wenn man uns allen vor dem Kreml die Glieder auseinanderreißt? Du bist ein Narr, Herrchen aus Deutschland, ein armer Narr. Du kannst nicht anders als mit Sonne und Luft heilen?«
»Nicht Xenias Krankheit.«
»Genug!« Massja hob die Hände. »Es gibt keine Wunder mehr, ich habe es in dieser Stunde begriffen. Komm, ich führe dich zu der Treppe, die im Garten endet. Dann verschwinde – für immer, Herrchen. Sieh dir den Knüppel in Igors Händen an: Er ist auf deinem Kopf wie ein niederfallender Baum.«
Trottau drehte sich zu Xenia um. Sie hockte auf dem Bett, nackt, in ihr goldenes Haar gewickelt, unwirklich schön. »Ich komme wieder«, sagte Trottau. »Ich werde dir die Sonne und die blühenden Wiesen zeigen.«
»Nichts wird er!« schrie Massja. »Väterchen wird ihn töten!«
»Dann werde ich Väterchen töten«, sagte Xenia leichthin. »Wann kommst du?«
»Morgen, Xenia …«
»Bete für deine Seele!« Massja drängte Trottau aus dem Zimmer. Sie schob ihn vor sich her und ließ ihn erst los, als die Gänge wieder dunkler, enger und nasser wurden. Sie riß eine Fackel aus dem Eisenring und drückte sie Trottau in die Hand. »Geh voraus!«
Wortlos tappten sie über verschiedene Gänge und Treppen, bis sie zu einem Gang kamen, der höher war als die anderen. Hier blieb Massja stehen. Sie zeigte nach rechts. »Dort entlang – dann kommst du an die Treppe zum Garten.«
Trottau sah sich um. Jetzt erkannte er, wo er war, und deutete nach links. »Und dort entlang und dann der dritte Gang rechts, dort beginnt die Treppe, die unter dem Zimmer des Zaren endet.«
»Davon weiß ich nichts. Leb wohl, Arzt.«
»Bis morgen, Massja Fillipowna.«
»Blattjew wird dir den Schädel zertrümmern …«
»Er wird es nicht tun. Er liebt sein Kind genauso wie du! Begreift ihr denn nicht: Ich nehme den Kampf gegen die Krankheit auf. Ich werde Xenia heilen. Morgen hole ich sie an die Sonne.«
»Dann müßtest du Igor und mich erschlagen.«
»Vielleicht tue ich es«, erwiderte Trottau dumpf. »Ich lasse Xenia nicht sterben. Mein Gott, wie tief sitzt in euch die Angst! Helft mir doch – es ist doch eure Tochter!«
»Du kennst den Zaren nicht.« Massja ergriff plötzlich Trottaus Hand und küßte sie wieder. »Herrchen, vergiß uns! Vergiß, was du gesehen hast. Es ist besser für uns alle.«
Marja empfing Trottau mit einem hellen Aufschrei. Sie warf sich gegen ihn, schlang die Arme um ihn und sank mit ihm auf das große Bett nieder. »Du lebst …«, stammelte sie. »Oh, du lebst! Ich habe vor Angst um dich geschrien … Mein Andrej, wo warst du? Warum bist du nicht gekommen, mein Liebling …«
»Ich habe mich verlaufen«, sagte Trottau. »Diese verfluchten Gänge … Aber ich habe den Weg dann doch gefunden. O Marja, welch eine Nacht …«
Sie preßte sich an ihn und hüllte ihn mit ihrer zitternden Wärme völlig ein. »Der Zar ist auf dem Weg nach Moskau«, flüsterte sie. »Er reitet Tag und Nacht. Mein blonder Bär, wir müssen jede Stunde austrinken wie einen Becher mit süßem Ungarwein … Ich friere, wenn ich an Iwans Umarmungen denke …«
Die Nacht war kurz. Die Zarin lag in Trottaus Armen und verbrannte ihn fast mit der Glut ihres Körpers. Aber während Trottau den heißen Sturm über sich hinwegbrausen ließ, und Marja nicht merkte, mit wieviel Qual er ihre Liebe genoß, dachte er unentwegt an Xenia.
Ihr fehlt die Sonne, dachte er. Ich werde sie ihr geben. Ihr fehlt die Luft – ich werde sie an die Luft führen. Ihr fehlt das Glück, zu leben – ich werde es sie lehren. Ihr fehlt die Liebe – ich werde sie ihr schenken …
»Mein blonder Bär«, stammelte die Zarin.
»Marjuschka …«, sagte er. Aber er dachte: Xenia, ich liebe dich! Ich hole dich hinauf zu den Menschen!
5
Den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung, ritt der Zar von Litauen nach Süden, nach Moskau. In den Nächten schlief er auf den Pferdestationen, aus denen seine Strelitzen die anderen Leute hinausprügelten, um dem von Gott gesegneten Herrscher den Anblick des gemeinen Volkes zu ersparen. Oder Iwan übernachtete in den Städten am Weg, und am Morgen schwang er
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