Der Leibarzt der Zarin
kraftlos, als ob du stundenlang eine schwere Last getragen hättest, aber in Wirklichkeit hast du gar nichts getan?«
»Nein.« Xenia schüttelte den Kopf und strich mit den Händen über ihre Brust.
Trottau blickte zur Seite. Sie soll das sein lassen, dachte er. Verdammt, die nimmt mir den Atem! Aber wie soll man ihr das sagen – sie würde es überhaupt nicht verstehen.
»Dreh dich um.«
Sie drehte sich um, und Trottau legte sein Ohr an ihren Rücken. Die Berührung mit ihrer Haut durchfuhr ihn wie ein Schlag. Ihr Körper war glatt und kühl, und aus den Poren kam ein Duft wie Gras in der Sonne. Das erschütterte Trottau am meisten – dieser Geruch des Lebens in einer steinernen Gruft.
»Atmen«, befahl er mit trockener Kehle. »Tief ein- und ausatmen. Immer wieder.«
Xenia atmete. Ihre Brust hob und senkte sich. Trottau umfaßte ihre schmalen Schultern und hielt selbst den Atem an, um besser hören zu können.
Da war es, ganz deutlich, unverkennbar, tief drinnen in den Lungen – dieses hohle, rasselnde Geräusch, dieser höhnische Ton, als gehe der Tod spazieren und pfeife dabei ein fröhliches Lied.
»Atem anhalten«, sagte Trottau rauh. Du bist Arzt, befahl er sich selbst. Vergiß das nicht! Und das hier ist eine Kranke. Ihre Lungen sind verkümmert, sie faulen in diesem herrlichen Körper. Und sie merkt es nicht, sie wird immer weniger werden, sie wird wirklich wie die Fackel sein, von der Massja sprach, die nur noch ein Stumpf ist und leuchtet und leuchtet, bis auch der Stumpf verbrannt ist. Es wird ein ruhiger, sanfter Tod sein, ein Weggleiten aus dieser verfluchten Welt …
Trottau klopfte Xenias Rücken ab. Deutlich waren die Lautverschiebungen zu hören, die Hohlräume in den Lungen. »Huste«, forderte er. »Tu so, als ob du hustest.« Xenia gehorchte. Er legte wieder das Ohr an ihren Rücken und hörte den furchtbaren Widerklang in ihren Lungen.
»Es ist gut.« Trottau trat zurück, deutete auf das Bett. Xenia legte sich auf das alte Wolfsfell und warf die langen goldenen Haare mit beiden Händen nach hinten. Wie ein Teppich lagen sie auf dem steinernen Boden.
»Du mußt ganz ruhig liegen«, sagte Trottau heiser. »Ganz entspannt. Ich sehe jetzt mit meinen Händen in deinen Körper hinein.«
»Das kannst du?« Ihre großen blauen Augen strahlten ihn an. »Du kannst mit den Händen sehen?«
»Jeder gute Arzt muß mit seinen Händen die Krankheiten aufspüren können. Lieg ganz still, Xenia.« Er tastete sie ab, ihren Brustkorb, ihren flachen Leib. Er legte sein Ohr an ihre Brust und hörte das Schlagen ihres Herzens. Dann ließ er Xenia sich herumdrehen und klopfte die Nieren ab. Danach setzte er sich auf den Holzhocker an den Tisch.
Xenia blickte ihn durch den Vorhang ihres goldenen Haars an. »Vorbei, Arzt der Zarin? Hast du die Krankheit mit deinen Händen gesehen?«
»Mit meinen Ohren habe ich sie gehört.«
»Ach!« Sie setzte sich auf. »Und was hat sie gesagt, die Krankheit?«
»Sie sagt: Ich brauche die Sonne, die Wolken, den Wind, die Wärme, um geheilt zu werden. Den Duft der Blumen und das Glück der reinen Luft. Ja, das sagt sie. Weißt du, was Sonne ist?«
»Mütterchen hat mir davon erzählt.« Xenia lehnte sich an die Wand und faltete die Hände. »Die Sonne ist etwas, das oben am Himmel hängt und die Welt erleuchtet und erwärmt.«
»Weißt du, was der Himmel ist?«
»Der Himmel ist eine blaue Unendlichkeit, die die Erde umgibt. Aus dem Himmel kommt alles, sagt Mütterchen. Ohne Himmel gibt es kein Leben. Stimmt das?«
»Ja. Und du mußt den Himmel und die Sonne sehen, den Wind spüren, die klare Luft atmen. Es gibt keine bessere Medizin als Sonne und Luft. Alles im Menschen lebt davon: die Poren, die Zellen, die Organe. Unser ganzer Körper ist eine einzige Sehnsucht nach Luft …«
Der Türvorhang schlug zur Seite. Massja erschien im Zimmer. »Du redest dummes Zeug!« Hinter ihr tappte Blattjew in den Raum. In der Hand trug er einen dicken Knüppel. Trottau sprang auf und stellte sich schützend vor Xenia.
»Du weißt, daß es kein dummes Zeug ist, Massja Fillipowna!«
»Es ist so sinnlos wie der Wunsch, daß Igors Zunge wieder nachwachsen solle. Was für eine Medizin – Sonne und Luft! Für uns gibt es nur Steine und Fackelschein. Such eine andere Medizin!«
»Es gibt keine andere. Massja Fillipowna, du kennst Xenias Krankheit so gut wie ich. Es ist die Schwindsucht.«
»Soll ich Fackeln um Xenia aufbauen, um die Sonne zu ersetzen? Soll Igor seine Tochter
Weitere Kostenlose Bücher