Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
die Gänge, nachdem er von dem Weg zum Zimmer des Zaren links abgebogen war. Wie aus dem Boden gewachsen, tauchte plötzlich Massja vor ihm auf. Ihr Gehör mußte in den zwanzig Jahren unter der Erde empfindlich wie das einer Ratte geworden sein, ihr Gang lautlos und geisterhaft, von der ewigen Stille aufgesogen.
    »Geh, du Narr!« zischte Massja, ehe Trottau sprechen konnte. »Blattjew zerdrückt dir den Schädel wie ein Ei.«
    »Ich komme, um Xenia an die Sonne zu holen.«
    »Willst du uns alle an den Galgen bringen? Wir werden dich einfach verschwinden lassen müssen, um weiterzuleben.«
    »Aber Xenia wird sterben! Das ist so sicher wie die Tatsache, daß Blattjew keine Zunge mehr hat.«
    »Ich weiß es, Deutscher. Zwischen gestern und heute war eine Nacht. Sie genügte, um sich damit abzufinden. Man entgeht seinem Schicksal nicht.« Massja drehte sich um und ging den Gang hinunter. Von den dicken Quaderwänden tropfte die Nässe. Es roch nach Schimmel und Verwesung.
    Trottau folgte Massja und blieb erst stehen, als sie nach ein paar Schritten anhielt. »Geh zurück!« sagte sie laut. »Kümmere dich um die Zarin!«
    »Sie ist auf der Jagd in Nowo Bugetschew. Sie kommt erst am Abend zurück.«
    »Warum bist du nicht mit ihr geritten?«
    »Ich habe gesagt, ich müsse den Zarewitsch behandeln. Das habe ich getan und als Honorar seinen Garten für Xenia bekommen. Niemand wird sie dort stören, niemand sie sehen, niemand verraten. Der Zarewitsch ist mein Freund.«
    Massja zog das Schultertuch enger um sich. »Ich flehe dich an, Deutscher – bleib zurück! Ich kann Blattjew nicht hindern, dich zu erschlagen.«
    Sie ging weiter, und Trottau folgte ihr. Er kam sich nicht einmal mutig vor, und er hatte auch keine Angst vor Blattjew. Er war Arzt, und hier war eine Krankheit, der er den Kampf angesagt hatte. Sie war im Körper eines Mädchens, das Andreas von Trottau zu lieben begonnen hatte. Diese beiden Dinge waren stärker als jede Drohung, jede Gefahr – und auch stärker als jede Vernunft.
    Der Gang weitete sich, die Kammern tauchten auf, die Wohnung der Blattjews.
    »Ich kann nur beten«, sagte Massja. »Nur beten …«
    Plötzlich stand Blattjew da, etwas nach vorn gebückt wie ein zum Angriff bereiter Riesenaffe.
    »Hör mich an!« rief Trottau und blieb ein paar Meter vor Blattjew stehen. Um ihn herum flackerten und blakten die Fackeln in den Eisenringen, und wieder war dieser merkwürdige, beißende, an Raubtiere erinnernde Geruch um ihn, den sich Trottau nicht erklären konnte.
    »Xenia ist dein einziges Kind, Igor Igorowitsch. Dein ganzes Herz hängt an ihr, und wenn du ansiehst, wie sie weniger und weniger wird und eines Tages verlischt, dann blutet dir das Herz. Du drückst das Gesicht an die Wand und weinst. Oh, du wärest kein Vater, wenn dir der Jammer nicht bis zur Kehle stünde! Soll ich dir sagen, wie es mit Xenia weitergehen wird, wenn ich ihr nicht helfe? Soll ich dir Schritt um Schritt ihren Tod beschreiben? Ich kenne ihn genau, ich habe ihn hundertmal gesehen … Ich habe erlebt, wie er Männer, so stark wie ein Baum, fällte, und wie er Frauen, die kräftiger waren als deine Massja, zu einem Häufchen werden ließ, das ein Kind davontragen konnte. Was kannst du für Xenia tun hier unten? Du kannst dich vor sie hinsetzen und sie anstarren und jammern und klagen und Gott verfluchen. Aber die Krankheit kümmert sich nicht darum. Sie hat ihren eigenen Gott, und Jammern ist der Nährboden, auf dem sie gedeiht. Ich aber kann Xenia helfen – begreifst du das? Ich werde sie an die Hand nehmen und ihr den Himmel und die Sonne zeigen, die Blumen und die Vögel, die Wolken und den Wind. Sie wird den Schnee kennenlernen und die herrliche, trockene Kälte … Und sie wird atmen, tief atmen und ihre Lungen mit köstlicher, sauberer Luft füllen. Damit besiegen wir den Tod, Blattjew. Damit gebe ich dir deine Xenuschka zurück!«
    Trottau holte tief Atem. »So, und jetzt erschlage mich, Igor Igorowitsch. Du erschlägst damit auch deine Tochter.«
    Blattjew rührte sich nicht. Er ließ Trottau herankommen, und als sie ganz nahe voreinander standen, warf er beide Arme um Trottau und zog ihn an sich. Er stammelte irgend etwas, grunzende, flatternde Laute, legte dann seinen Kopf auf Trottaus Schulter und weinte.
    Am Ende der Treppe, die an der Falltür unter dem Busch endete, blieben sie stehen. Bis hierhin hatte Trottau Xenia an der Hand geführt wie ein Kind, und sie war mitgekommen, ohne ein Wort zu sprechen.

Weitere Kostenlose Bücher