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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einen singenden Vogel, am Himmel ziehende Wolken und das warme Gras zu begreifen«, sagte Trottau. »Sie wird auch den Winter kennenlernen. Und sie wird ihn lieben wie die Wärme.«
    »Es ist so schön!« Xenia warf die Arme hoch und lief auf Massja zu. Sie weinte plötzlich, und Massja schlang beide Arme um sie und blickte über Xenias Kopf hinweg böse auf Trottau.
    »Mütterchen, alles auf der Welt ist schön, alles …«, schluchzte Xenia.
    »Es gibt Wölfe, die Mensch und Tier zerreißen, es gibt Raubvögel, die ihre Krallen in den Leib der Wehrlosen schlagen, und es gibt den Menschen, der alles vernichtet – das gnadenloseste Geschöpf Gottes.«
    »Was ist das alles gegen eine Rose, die sich im Winde wiegt, Mütterchen!« Xenia warf den Kopf zurück, ihr langes, blondes Haar berührte den steinernen Boden.
    In Massjas Augen sprang ein böser Funken auf. »Du hast sie verdorben, Arzt! In ein paar Stunden hast du sie verdorben.«
    »Ich werde Xenia heilen«, antwortete Trottau. »Hier unten wird sie verlöschen.«
    »Eine Blattjew hat oben in der Sonne keinen Platz!« schrie Massja.
    »Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben. Und Xenia besonders – weil ich es will.«
    »Weil du es willst! Wie das klingt! Wie stolz, wie mächtig! Wer bist du denn, he? Ein Deutscher, der Arzt der Zarin. Ein Wink von ihr, und du hängst vor dem Kremltor am Galgen. Das bist du wert, du Großmaul von einem Arzt!« Massja drückte Xenia fest an sich. »Laß sie in Ruhe, sag ich dir! Da oben in der Sonne wird sie nie geheilt, dort wird sie für immer verdorben. Igor, jag ihn fort! Er stiehlt uns unsere Tochter …«
    Blattjew stieß einen dumpfen Laut aus. Trottau wich zwei Schritte zurück und zog seinen zierlichen Kavaliersdegen aus der Scheide. Er streckte die Klinge vor und spreizte die Beine, um besseren Stand zu haben. »Bleib stehen, Blattjew!« rief er.
    »Väterchen!« schrie Xenia hell. »Väterchen, rühr ihn nicht an! Er hat mir erst gezeigt, daß ich ein Mensch bin.« Sie wollte sich aus Massjas Armen befreien, aber die breite, starke Frau hielt sie fest.
    Blattjew kam näher. Die Degenklinge kümmerte ihn nicht, auch nicht, als Trottau in Kampfstellung sprang, bereit, vorzuschnellen und den Degen in Blattjews Brust zu bohren. Da schnellte Blattjews rechte Pranke vor, packte blitzschnell die Klinge, riß sie mit einem mächtigen Ruck aus Trottaus Hand und zerbrach sie wie einen Strohhalm. Klirrend fielen die Stücke auf den Boden.
    Aber dann geschah etwas Ergreifendes. Blattjew stand nahe vor dem erstarrten Trottau, dem zur Abwehr nur seine geballten Fäuste geblieben waren – armselige Waffen gegen die gewaltige Kraft dieses Monstrums. In Blattjews Augen schimmerte es – aber es war kein Funkeln des Hasses, sondern aus diesen runden, bettelnden und sich selbst im Zorn nie verändernden Augen liefen lautlose Tränen. Er zog den Arzt an sich, küßte ihn dreimal auf die Wangen, streichelte mit einer Zärtlichkeit, die niemand diesen groben Händen zugetraut hätte, über Trottaus Haare und Gesicht und stieß gurgelnde Laute aus, Worte, die nur in seinem Kopf einen Sinn hatten.
    »Ich danke dir, Igor Igorowitsch«, sagte Trottau gepreßt. »Ich verspreche es dir …«
    »Du verstehst ihn?« rief Massja.
    »Wer wird einen Vater nicht verstehen, dem man die Tochter rettet! Und wenn man ihm hundert Zungen herausgerissen hätte – es gibt Augenblicke, wo auch ein Stummer zu reden beginnt.«
    »Er soll sie morgen wieder an die Sonne führen?« fragte Massja.
    Blattjew nickte.
    »Jeden Tag?«
    Wieder das Nicken.
    »Du glaubst an ihn, Igor Igorowitsch?«
    Blattjew holte tief Luft. Seine Lippen formten sich, der Mund riß auf. Und dann sagte er, aus dem Grunde der Kehle kommend, aber deutlich verständlich: »Ja!«
    Es war wie ein Schrei.
    Xenia warf sich Blattjew zu Füßen und umklammerte seine Beine in den geflochtenen Strohstiefeln. »O Väterchen«, weinte sie, »mein gutes Väterchen … Gott segne dich jeden Tag …«
    Blattjew hob seine Tochter auf, nahm sie wie eine Puppe auf seine Arme und trug sie an Massja vorbei ins Zimmer.
    Bis ins Innerste aufgewühlt kehrte Trottau in seine Wohnung im Kremlpalast zurück. Sein Diener, der ihm vom Oberhofmeister zugeteilt worden war, ein zur Leibeigenschaft verurteilter Gefangener aus Kasan, erwartete ihn schon mit dem Mittagessen. Auf silbernen Tellern lagen große Stücke kalten Bratens, frisches Obst und ein Salat aus roten Rüben. Eine Flasche Ungarwein stand daneben.
    Trottau

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