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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Jetzt war es notwendig, Xenia auf das vorzubereiten, was sie gleich sehen würde. Es war, als wenn man einem Blinden neue Augen gab: Der Anblick der Welt mußte ihn überwältigen, niederwerfen, erdrücken.
    Bevor sie weggegangen waren aus der Höhlenwohnung, hatte Massja ihre Tochter gesegnet. Und Blattjew hatte ein Tuch gebracht und lallend herumgestikuliert. Da niemand ihn verstand, auch Massja diesmal nicht, hatte er demonstriert, was er sagen wollten. Er hatte das Tuch über seine Augen gelegt.
    Trottau hatte verstanden. »Nein«, hatte er heiser gesagt, »sie wird nicht blind werden vom Sonnenlicht. Ich verspreche es dir, Igor Igorowitsch.«
    Nun standen sie vor der Falltür, und es war nur noch ein Schritt zum wirklichen Leben.
    »Ich habe Angst, Andrej«, sagte Xenia leise. Sie benutzte die russische Form des deutschen Namens – genau wie die Zarin. Aber wenn Xenia ihn aussprach klang er ganz anders – wie ein trauriges Lied, das um Verzeihung bat, daß es gesungen wurde …
    Trottau legte den Arm um ihre schmalen Schultern und zog sie an sich. Sie zitterte. »Angst wovor, Xenia?«
    »Vor der Sonne …«
    »Die Sonne ist Leben.« Er legte die Hände gegen die Falltür. »Ich drücke jetzt die Klappe auf, ganz langsam … Das Licht wird direkt auf dein Gesicht fallen.«
    Xenia nickte, aber als Trottau die Tür bewegte, warf sie schnell Blattjews Tuch über die Augen, hob den Kopf und ballte die kleinen Fäuste. Sie stand da wie auf dem Gerüst eines Galgens und erwartete so das erste wirkliche Licht.
    Stück für Stück schob Trottau die Klappe hoch. Sein Herz hämmerte. Draußen schien eine warme Sommersonne. Es war kurz nach dem Mittagsläuten, und Hitze lag über Moskau, als sei die Stadt ein Brot in einem steinernen Backhaus.
    Xenia kroch in sich zusammen. »Warum brennen so viele Fackeln?« stammelte sie.
    »Es sind keine Fackeln – es ist die Wärme der Sonne.«
    »Irgendwo weht es heiß herein …«
    »Das ist der Wind.«
    »Ich will zurück zu Väterchen, Andrej …«
    »Es ist nur noch ein Schritt zum Leben, Xenuschka. Nur ein Schritt! Komm, ich führe dich, ich halte dich fest.«
    Trottau legte wieder den Arm um sie. Ihr Kopf war weit nach hinten gebeugt, das Tuch lag über ihren Augen. So stiegen sie die letzten Stufen hinauf und standen dann im hohen Gras. Die Bäume rauschten, von den Rosenhecken an der Mauer wehte der süße Duft herüber, und in den Zweigen über ihnen zwitscherten die Vögel.
    »Was ist das?« fragte Xenia leise. »Diese Stimmen …«
    »Die Vögel freuen sich über den schönen Tag. Du kannst sie sehen, Xenia. Nimm das Tuch weg, mach die Augen auf.«
    »Ich habe Angst, Andrej …«
    »Es ist nur ein Moment, Xenia. Es ist gleich vorbei.« Er riß ihr das Tuch von den Augen, aber Xenia kniff die Lider zusammen und klammerte sich an ihm fest. Trottau legte ihr seine Hand über die Augen und küßte sie auf die Stirn. »Mach die Augen auf, Xenia«, sagte er tief atmend. »Bitte …«
    »Ich habe sie aufgemacht, Andrej.« Sie zitterte stärker. Zum erstenmal in ihrem Leben sah sie einen Schimmer echten Lichts. »Durch deine Finger quillt die Helligkeit …«
    »Paß auf …« Trottau umfaßte sie mit dem linken Arm. »Xenuschka, du wirst jetzt zum zweitenmal geboren, richtig geboren …« Mit einem Ruck riß er die Hand weg. Er sah Xenias starre, offene, blaue Augen und machte eine weite Geste über Gras, Bäume, Büsche, Blumen, den Himmel und die Wolken. »Xenia – die Welt!«
    »Mein Gott, so sieht sie aus«, sagte sie kaum hörbar. »Das ist sie … Wie schön, wie unbeschreiblich schön …« Sie knickte plötzlich in den Knien ein, fiel hin, stützte sich mit den Händen ab und blieb auf den Knien liegen. Trottau half ihr nicht. Der Schock, den sie allein überwinden mußte, war gekommen. Xenia kniete im Gras, ließ die weichen Halme durch die Finger gleiten, legte die Hände um eine Rose.
    »Das da ist Gras«, sagte sie. »Und das eine Blume?«
    »Ja, Xenia.« Trottau kniete sich neben sie und schob ihr das lange, blonde Haar aus dem Gesicht.
    »Ist das dort ein Baum?«
    »Ja, eine Birke.«
    Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte dem weißen Wolkenberg nach, der träge im Wind unter dem unendlichen blauen Himmel dahinzog. »Und das da oben?«
    »Eine Wolke. Der Wind treibt sie über den Himmel, bis sie sich irgendwo auflöst oder mit anderen Wolken verbindet. Dann wird es irgendwo regnen.«
    »Ein Wunder, Andrej, ein Wunder!« Sie sah ihn aus ihren großen blauen

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