Der Leibarzt der Zarin
setzte sich in einen tiefen, mit Wolfspelz bespannten Holzsessel und bedeckte mit beiden Händen die Augen. Er brauchte jetzt Zeit, um seine Liebe zu Xenia, das Erlebnis ihres schönen Körpers in seinen Armen und das gefährliche Spiel, das er begonnen hatte, zu verarbeiten.
Am Tage Xenia Igorowna, die er liebte. In der Nacht die Zarin Marja, die er lieben mußte … Wenn diese beiden Frauen jemals aufeinanderprallten, mußte die Welt untergehen.
»Herr«, sagte der Diener vorsichtig. Er war mit Trottau noch nicht so vertraut, um dessen Launen zu kennen. Was er bisher erlebt hatte, machte ihn vorsichtig. Alle hohen Herren haben Launen – das war eine simple Wahrheit, die der Diener schnell begriffen hatte. Erst hatte er hingerichtet werden sollen als gefangener Feind. Dann hatte man ihm das Leben geschenkt, aber ihm dafür für immer seine Freiheit genommen. Er hatte bisher neunmal seinen Herren gewechselt. Alle hatten ihn geprügelt und getreten wie einen Hund, hatten ihn angespuckt und mit der Knute auf ihn eingedroschen. Wer die Macht hat, darf die Menschen so behandeln. Und ein Leibeigener ist nicht einmal ein Mensch. So ist das, Afanasi Lukanowitsch Sabotkin, du treuherziger Mensch aus den Rosenfeldern bei Kasan. Der Teufel hole die Launen der hohen Herren – aber er tut es nicht, denn er sitzt bei ihnen und trinkt mit ihnen Wein.
»Herr«, sagte Afanasi Lukanowitsch noch einmal, diesmal ganz vorsichtig und mit einer tiefen Verbeugung, »ich habe dir das Essen gebracht …«
»Ich habe keinen Hunger, Afanasi«, sagte Trottau müde. »Laß mich allein.«
»Der Zarewitsch will dich sprechen, Herr.«
Trottau nickte. Der Zarewitsch, dieser Schwächling, der sich hinter dicken Mauern verbirgt … Was wird aus Rußland, wenn er einmal den Thron besteigt? Wie die Geier werden die Bojaren, die nur auf Iwans Tod warten, über ihn herfallen und ihn zerfleischen. Da waren der finstere Boris Godunow, den noch keiner hatte lächeln sehen, und der fröhliche, aber gerade deshalb wie ein Tiger gefährliche Schuiski. Da waren der alte Nikita Romanow und der Bojar Scheremetjew, der seine Töchter so verheiratete, daß er mit allen Fürstenhäusern verwandt war. Von seiner jüngsten Tochter Helena hieß es, er verstecke und pflege sie wie ein Kleinod, um sie einmal mit dem Zarewitsch zu verheiraten. Und da waren noch die Bojaren Jurjew und Basmanow, die sich bei Iwan einschmeichelten, indem sie alle Grausamkeiten, die er erdachte, sofort in die Tat umsetzten.
Welch eine Welt! dachte Trottau. Welch ein Land, welch ein Thron! Dieses Volk hat man nur mit Blut zusammengeleimt …
»Ist der Zarewitsch krank?« fragte er.
»Nein, Herr. Er will dich nur sehen.«
Iwan, der Kronprinz, starrte Trottau entgegen. Seine Hände begannen zu zittern, als er fragte: »Wer war die Frau in meinem Garten?«
Trottau spürte sofort, welche Gefahr von dieser Frage ausging. Der Zarewitsch war verändert. »Ihr habt sie gesehen, Herr?« fragte er zurück.
»Ihr Körper war Elfenbein in der Sonne.« Der Zarewitsch beugte sich vor. Die Sanftheit seiner Mutter Anastasia, die Furcht vor seinem wilden Vater – alles fiel von ihm ab, als habe der Anblick von Xenia etwas in ihm aufbrechen lassen. »Wer ist sie?«
»Eine Kranke, Herr.«
»Du lügst!«
»Es wäre tödlich, den Zarewitsch zu belügen.«
»Es ist tödlich!« Iwan lehnte sich zurück. »Küßt man eine Kranke?«
»Ich heile sie, Herr.«
»Mit Küssen? Mit Streicheln? Indem man mit ihrem goldenen Haar spielt? Arzt, hast du das studiert? Behandelst du damit auch die Zarin?«
Trottau hielt dem Blick des Zarewitsch stand. Ein Blick wie vom Zaren, hart, adlergleich, zwingend. Er könnte doch einmal die russische Krone tragen, durchfuhr es Trottau. Er ist kein Schwächling. Alle anderen machen ihn nur dazu, reden es ihm ein, bis er es selbst glaubt.
»Es ist ein sehr krankes Mädchen«, wich Trottau aus. Er verstand den Zarewitsch: Wer Xenia einmal gesehen hatte, konnte sie nicht vergessen. »Die Sonne, die Luft und die Blumen sind ihre einzige Rettung.«
»Deine idiotische Medizin, die mir das Fieber gebracht hat! Frische Luft!« Der Zarewitsch sprang auf und trat ans Fenster. Er starrte auf die Stelle, wo Xenia im Gras gelegen hatte. Der Fleck war deutlich zu sehen, das Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet. »Was für eine Krankheit hat sie?«
»Die Schwindsucht, Herr.«
»Das ist ihr Tod.«
»Wenn sie jeden Tag in Euren Garten kommen darf und in der Sonne liegt,
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