Der Leibarzt der Zarin
Augen an. »Was ist Wind?«
»Du spürst ihn jetzt auf der Haut. Dieses unsichtbare Streicheln …«
»Es ist wundervoll, Andrej. Ich will ihn überall spüren, diesen Wind.«
Sie riß sich das Kleid vom Körper, ehe Trottau sie daran hindern konnte. Ihre Nacktheit in diesem goldenen Sonnenlicht überwältigte ihn. Er blieb neben ihr knien, als sie sich ins Gras zurückfallen ließ und die Arme ausbreitete, um den Wind einzufangen.
Ein paarmal blickte Trottau zu den Fenstern hinauf, hinter denen die Zimmer des Zarewitsch lagen. Aber dort rührte sich nichts, die dicken Portieren waren zugezogen. Der Erbe des russischen Reiches vergrub sich.
Xenia lag ein paar Minuten wortlos in der Sonne, blickte in den Himmel und nahm das Leben in sich auf wie ein Märchen.
»Wenn man uns hier entdeckt, wird man uns aufhängen«, sagte sie plötzlich. »Aber ich habe keine Angst davor. Diesen Tag kann man nicht bezahlen, auch mit dem Leben nicht, Andruschka.«
»Hier wird uns niemand entdecken.«
»Aber der Garten gehört dem Zarewitsch …«
»Ja – er hat ihn mir geliehen.«
»Kann man ein Paradies verleihen?«
»Es ist vieles möglich auf der Welt und zwischen den Menschen, und das meiste versteht man nicht.«
»Aber wenn der Zarewitsch sagt: Hinaus aus dem Paradies – dann müssen wir gehen?«
»Ja.«
»Dann laß uns hier solange liegen, wie es möglich ist.« Xenia sah Trottau an. »Warum bist du so schwarz, Andruschka? Alles an dir ist schwarz, die Schuhe, die Hosen, der Rock … Und hier ist alles so bunt.«
»Es ist die Kleidung des Arztes. Der Zar schreibt sie vor.«
»Hier ist kein Zar.« Sie legte beide Hände um seinen Kopf und lachte ihn an. »Zieh dich doch aus wie ich! Du hast mir die Sonne geschenkt und selbst flüchtest du vor ihr. Was hast du gesagt: Die Haut muß atmen. Hast du keine Haut, Andruschka?«
»Xenia …« Trottau schloß die Augen. Sie kann nicht wissen, was das ist – dieses Gefühl eines Mannes für eine Frau, dieses Drängen zu ihr, dieses Brennen des Körpers, das nur der andere Körper löschen kann. Woher soll sie es auch wissen …
»Liebst du die Sonne nicht?« fragte Xenia. »Erst preist du sie, und jetzt verschmähst du sie.«
Mit bebenden Händen zog Trottau sich aus. Und Xenia legte ihre Hand auf seine Brust und schob ihren Kopf auf seine Schulter. »Du hast recht«, sagte sie leise. »Es gibt nichts Schöneres, als in der Sonne zu sein …«
Sie wehrte sich nicht, als Trottau sie an sich zog und küßte. Sie kannte keinen solchen Kuß; Lippe an Lippe, sah Xenia Trottau erstaunt an. Aber dann öffnete sie den Mund und trank das Unbekannte, Selige, das den ganzen Körper durchströmte, und klammerte sich an Trottau fest, als ertrinke sie. Was Liebe ist, wußte Xenia nicht. Aber sie wußte noch während dieses Kusses, daß alles anders geworden war …
Oben am Fenster, hinter der dicken Portiere, stand der Zarewitsch und starrte mit brennenden Augen auf die Liebenden zu seinen Füßen.
7
Nach einer himmlischen Stunde der Ruhe, des Atmens, des Auffangens der Sonne mit allen Poren und der Geburt einer Liebe, die von Kuß zu Kuß wuchs und glühender wurde, führte Trottau Xenia zurück in die dunkle Unterwelt zu ihren Eltern.
Der Schock, den Xenia beim Eintritt in ihre bisherige Welt erlitt, war deutlich zu spüren. Sie preßte sich an Trottau, lehnte den Kopf gegen seine Schulter und begann zu zittern, je weiter sie in die riesige, feuchte Gruft vordrangen.
Die Behausung der Blattjews tauchte auf. Im Gang vor der Tür zum großen Wohnzimmer stand groß und dunkel Massja Fillipowna. Irgendwo hörte man Blattjew rumoren. Sein feines Gehör vernahm aber trotzdem die Schritte. Irgend etwas klirrte auf den Steinboden, dann erschien Igor Igorowitsch, breit, massig, ein Mann wie ein Berg.
Trottau spürte, wie Xenia sich enger an ihn preßte. Ihre Hand umklammerte seinen Arm. »Väterchen«, sagte sie stockend, »hier sind wir wieder.« Und als Blattjew nicht einmal knurrte, sondern nur stumm an der Wand lehnte, sagte sie wie verloren: »Mütterchen – draußen ist Sommer …«
»Wie war es?« fragte Massja dunkel.
»Ein Wunder, Mütterchen.«
»Es gibt keine Wunder.«
»Ich möchte immer in der Sonne liegen, Mütterchen.«
»Es scheint auch nicht immer die Sonne. Es regnet, der Sturm heult, Schnee erstickt die Erde, der Frost zerbricht die Bäume. Hast du ihr das nicht auch erzählt, Arzt?«
»Es war genug für sie, erst einmal eine Blume, einen Schmetterling,
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