Der Leibarzt der Zarin
treiben. Die nächste Frage des Zaren bewies es.
»Nenne mir einige Sehnsüchte, Arzt.«
»Die Liebe zum Vaterland, Herr …«
Iwan senkte den Kopf. »Das ist die Ursehnsucht der Russen … Es stimmt. Weiter!«
»Die Sehnsucht nach Frieden.«
»Ein Traum, Arzt.«
»Die Sehnsucht nach Reichtum.«
»Sie verdirbt den Menschen.«
»Die Sehnsucht nach Gesundheit.«
»Eine Wunderhoffnung. Gibt es gesunde Menschen, Arzt? Du mußt es wissen. Hast du schon einmal in deinem Leben einen völlig gesunden Menschen gesehen?«
»Nein, erhabener Zar.«
»Also bin ich auch krank?«
»Da kein Mensch vollkommen ist, kann auch ein Körper nicht vollkommen sein.«
Der Zar legte das Kinn auf seine Fäuste, die den Possoch umklammerten. »Sind das alle Sehnsüchte, die du kennst?«
Die Falle war offen, aber Trottau ging nicht hinein. »Die wichtigsten, Herr.«
»Und die Sehnsucht nach einer Frau?«
»Man hat sie, erhabener Zar, aber man spricht nicht darüber.«
»Gut pariert, Arzt! Aber zu kühn!« Iwans Kopf fuhr hoch. »Du kennst die Sehnsucht nach einer Frau?«
»Ja, Herr.«
Sie sahen sich wieder an. In Iwans Blick glitzerten die Gnadenlosigkeit und die Macht. Trottau begriff jetzt, warum jeder in Rußland in den Staub fiel, wenn der Zar ihn ansah, und warum er inbrünstig Gott dankte, wenn der Zar wieder gegangen war, ohne Blut zu hinterlassen.
»Welche Frau? Hast du auch den Mut, ihren Namen zu nennen, Deutscher?«
»Sie heißt Elisabeth und wohnt in Aachen.«
Das war eine so klare und unerwartete Antwort, daß Iwan verblüfft schwieg. Als der Zarewitsch leise lachte, fuhr er herum und stampfte mit dem Possoch auf.
»Warum bist du Arzt geworden, Deutscher?« Der Zar bohrte die Spitze des Possochs in Trottaus schwarzen Rock, bis der Stahl die bloße Haut traf. Trottau stand steif und unbeweglich da. Die kleinste Bewegung mußte die Stahlspitze in seine Brust treiben. »Ein Mensch wie du eignet sich zum Narren«, sagte Iwan langsam. »Nur ein Narr darf auf dieser Welt die Wahrheit sagen. Daß man darüber lacht, beweist, welch ein Feind die Wahrheit ist. Ich habe bisher alle meine Feinde besiegt – weißt du das, Arzt?«
»Man sagt es, erhabener Zar.«
»Man weiß es!« schrie Iwan. »Welche Krankheit hat die Zarin?«
»Die Einsamkeit, Herr.«
»Welch ein Tor! Marja gehört das ganze russische Reich!«
»Was fängt eine Frau mit einem Reich an? Der schmutzigste Raum einer Hütte ist wertvoller für sie, wenn er von Glück erfüllt ist.«
Iwan lehnte sich zurück. Sein Gesicht veränderte sich. Die Grausamkeit wich aus seinen Augen.
»Marja ist unglücklich?« fragte er leise. »Hat sie dir das gesagt?«
»Wie kann eine Zarin darüber mit einem Bettler sprechen! Aber ein Arzt liest die Krankheiten auch aus den Blicken. In den Augen erkennt man die Seele, sagte schon Hippokrates. Als Ihr in Litauen wart, großer Zar, hatte sie traurige Augen.«
Iwan sprang auf. Der Zarewitsch duckte sich, seine Augen wurden weit. Jetzt sticht er ihn nieder dachte er. Litauen und Polen liegen wie Aussatz auf des Zaren Seele, und Trottau wagt es, Litauen zusammen mit der Zarin zu nennen. Ein guter Arzt ist er zwar – aber eben doch nur ein Narr. Leb wohl, Brüderchen …
»Du wirst mich morgen untersuchen, Arzt«, sagte Iwan hart. »Nach der Morgenmesse stehst du bereit.« Er ging zur Tür, blieb ruckartig stehen. »Nein, nicht morgen, jetzt! Ein Zar ist immer gesund, weißt du das?«
»Ich werde es lernen, Herr.« Trottau knöpfte seinen Rock zu, nahm seine Arzttasche vom Boden und verneigte sich vor dem erstarrten Zarewitsch.
»Du sollst es sehen und hören!« Über das Gesicht des Zaren lief ein böses Lächeln. »Ich werde dir zeigen, wie man die Zarin heilt!«
Er trat die Tür wieder auf; die Leibgardisten im Vorraum standen steif wie Bäume, selbst ihre Augen schienen zu Holz erstarrt. Der Zar hastete durch die langen Gänge, sein tatarischer Mantel wehte um seine knochige Gestalt. Trottau folgte ihm, und je näher sie den noch immer singenden Mönchen kamen, um so schmerzhafter verkrampfte sich sein Herz. Er glaubte, die Gedanken und Pläne Iwans zu erraten. Sie würden ihn, Trottau, zum Mitwisser machen – ein Wissen, das ihn für alle Zeiten dem Zaren ausliefern würde.
10
Marja Temrjuka saß noch immer betend in ihrem goldenen Sessel. Die Mönche sangen das zehnte Credo; drei kleine Meßdiener, Novizen des Klosters, wechselten Kerzen aus. Zwei riesenhafte Leiblakaien schwangen die noch herbeigeschaften
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