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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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singen. Dann saß er versunken da, hatte die Augen geschlossen und dachte an seine Kindheit, die voller Härte und Bosheit, Intrigen und Brutalität gewesen war – aber auch voller Sehnsüchte. In solchen Stunden, eingehüllt von Gesang, war der Zar kein furchterregender Herrscher mehr, sondern ein ganz kleiner Mensch, der sogar weinen konnte, wenn das ›Erbarme dich, Gott‹ gewaltig zum Himmel klang.
    Zar Iwan unterlag dem größten Betrug, der je an ihm begangen worden war.
    Als der Chor schwieg, beugte sich Iwan zu Marja hinunter und küßte ihre Stirn. »Mein Engel, ich liebe dich. Ich bin Tag und Nacht geritten, um dich zu sehen.« Und dann fügte er ganz beiläufig hinzu: »Wo ist Trottau, der Arzt?«
    »Ich weiß es nicht, mein Liebling.«
    »Du kennst ihn?«
    »Er hat mir einmal geholfen. Mein Kopf zersprang fast vor Schmerzen.«
    »Ein schöner Mann, nicht wahr?«
    »Ein deutscher Bauer!« Marja küßte Iwans Hand. »Mein Herz zuckt vor Glück, daß du gekommen bist …«
    Die Mönche sangen wieder. »Gott, mein Herr, wir loben dich. Du bist die Macht, die alles schafft …«
    Marja versank von neuem in Andacht. Iwan entfernte sich leise. Er sah nicht, wie Marja ihm unter gesenkten Lidern nachblickte.
    Draußen vor der Tür winkte der Zar einem Strelitzen. »Weiß man, ob der deutsche Arzt in seinem Zimmer ist?«
    »Erhabener Herrscher, der Arzt sitzt bei dem Zarewitsch«, antwortete ein großer, bärtiger Mann aus dem Halbdunkel.
    »Wer bist du?«
    »Der Diener des Arztes, großer Zar.« Sabotkin verneigte sich tief. Ohne daß Trottau davon wußte, war er hierhergekommen, um auch von sich aus jede Verbindung zwischen Trottau und der Zarin zu verwischen. Es schien gelungen.
    »Kommt mit!« Iwan winkte. »Ich will den Arzt sprechen.«
    Sabotkin rannte voraus. Er wußte, daß Trottau jetzt mitten in der Untersuchung war – ein Anblick der den Zaren überzeugen würde. Vor der Tür vor dem Schlafzimmer des Zarewitsch blieb der Diener stehen und fiel auf die Knie. »Hier ist es, großer Zar.« Ein Tritt des Zaren warf ihn zur Seite. Ein zweiter Tritt öffnete die Tür.
    Trottau richtete sich vom Bett auf und streckte die nackten Arme von sich. Er hatte den Zarewitsch gerade massiert.
    Mit gesenktem Kopf, wie ein Adler, der im Gras eine Beute erspäht, blieb der Zar in der Tür stehen.
    Eine ganze Zeitlang, die Trottau wie eine Ewigkeit vorkam, standen sie sich gegenüber: der Zar breitbeinig auf seinen Possoch gestützt, der Arzt sich tief verneigend. Hinter ihnen setzte sich der Zarewitsch in seinem Bett auf, zog sein offenes Hemd über den schmalen, bleichen Brustkorb und stellte die Füße auf den Boden.
    »Gott segne dich, Väterchen«, sagte er. »Wo kommst du her? Keiner hat dich erwartet.«
    »Ich habe fliegen gelernt, mein Sohn«, erwiderte der Zar. Er streckte den Arm aus und berührte mit der stählernen Spitze des Possochs Trottaus Hals, der noch immer mit gesenktem Kopf wartete. »Du bist ein kluger Mann, Arzt. Du wirst sagen: Ein Mensch kann nicht fliegen. Und ich sage dir: Ich bin geflogen. Glaubst du das?«
    »Ja, Herr.« Trottau richtete sich auf. Ihre Blicke begegneten sich, kreuzten sich, prallten aufeinander wie Schwerterklingen.
    Der Zar zog die buschigen Brauen hoch. Dieser Mann kennt keine Angst, dachte er. Meine Possochspitze liegt an seiner Kehle, und er blickte mich an mit dem ganzen Stolz des Stärkeren. Man sollte jetzt zustechen. Nur eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk ist nötig, und es wird niemanden geben, der diesen Trottau vermissen wird. Ob Arzt oder Bojar – sie sind alle Kulaken. Mein Wille allein ist ihr Leben. Man sollte wirklich zustechen …
    Aber er tat es nicht. Langsam ließ er den Possoch sinken und stützte sich wieder auf ihn. Die Spitze bohrte sich in den dicken Teppich.
    »Du antwortest mit Ja? Wie können Idioten nur Ärzte werden?«
    »Warum sollen Zaren nicht fliegen können? Der Zar kann alles.«
    »Das ist eine gute Antwort.« Iwan setzte sich in einen Sessel neben das Bett des Zarewitsch. »Ich hatte Sehnsucht nach Moskau«, fuhr er nach ein paar Minuten quälenden Schweigens fort. Auch der Zarewitsch sprach kein Wort. Er kannte seinen Vater besser als Trottau, und er sah in den Augen Iwans das kalte Glitzern der Grausamkeit und jene Freude, die eine Katze empfinden muß, wenn sie mit einer wehrlosen Maus spielt. »Kennst du Sehnsucht, Arzt?«
    »Ja, erhabener Zar.« Trottau war auf der Hut. Das Gespräch begann in eine gefährliche Richtung zu

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