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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Schale hin. Langsam schlürfte Trottau das heiße Getränk. Es war kräftig und süß. »Das tut gut«, sagte er zwischen zwei Schlucken. »Afanasi, du bist vielleicht ein besserer Arzt als ich.«
    »Es ist nicht klug, hierzubleiben.« Sabotkin stellte die Schale beiseite.
    »Wo soll ich hin?« Trottau setzte sich auf sein Bett. »Flüchten? Wie weit käme ich denn? Die Hand des Zaren reicht überallhin. Und warum flüchten? Es gibt keine Beweise, Afanasi … Nur du weißt, wo ich meine Nächte verbracht habe.«
    »Ich bin ein Grab, Herr, das alles schluckt. Flüchten wäre dumm. Du solltest den Zarewitsch untersuchen, während der Zar eintrifft.«
    »Auch das weißt du schon, du Halunke?«
    »Es ist wichtig, das dritte und vierte Auge von seinem Herrn zu sein.« Sabotkin lächelte in seinen Bart. »Du kannst mich verprügeln …«
    »Ich werde dir zehn Rubel schenken! Dein Rat ist gut. Meine Tasche, meinen Mantel, Afanasi! Lauf voraus und melde mich dem Zarewitsch.«
    Der Thronfolger hatte am Abend viel getrunken. Aus tiefem Schlaf gerissen, starrte er Trottau an. »Wer hat dich gerufen?«
    »Mein Gewissen, Herr.« Trottau zog die Decke aus Wolfspelz vom Körper des Zarewitsch. »Es gibt gewisse Untersuchungen, die man nur nachts erfolgreich durchführen kann. Der Stand des Mondes spielt dabei eine Rolle. Heute ist eine solche Nacht. Ich muß Euer Herz hören, Zarewitsch.«
    Er schob das Hemd hoch und preßte sein Ohr auf die Brust des Zarensohnes. Ich tue es für dich, Xenia, dachte Trottau dabei. Ich werde alles für dich tun. Selbst meine Berufsehre als Arzt mache ich jetzt lächerlich. Aber es muß sein – der Tod reitet gerade durch Moskau.
    Nachdem Trottau gegangen war, kehrte Marja in ihr Zimmer zurück. Sie schlug gegen einen großen Gong, der in einer Ecke stand, und als die Leibgardisten hereinstürzten, gefolgt von den verstörten Kammerfrauen, saß die Zarin auf ihrem breiten Bett und hatte die Hände gefaltet.
    »Meine Festkleider!« rief sie. »Die Tscherkessenkrone! Niemand hat daran gedacht, was heute für ein Tag ist. Ich bin aufgewacht nach einem Traum, in dem Gott zu mir sagte: ›Marja, hast du mich vergessen? Heute ist der Tag, an dem ich einen Lahmen heilte und einen Blinden sehend machte. Und du schläfst?‹ Da bin ich aufgewacht und habe geweint vor Scham. Was steht ihr hier herum? Schnell, holt die Mönche! Vater Prokorij soll kommen! Mein Festgewand! Lauft, lauft!«
    Noch während der Zar durch das schlafende Moskau ritt, liefen die in einem Kloster neben der Krönungskirche hausenden Mönche zusammen und strömten unter der Führung von Vater Prokorij in den Zarenpalast. Im Zimmer der Zarin entzündeten ein Zeremonienmeister und vier Lakaien über hundert Kerzen in silbernen Leuchtern und schleppten große, goldschimmernde Ikonen heran. Die Zarin war in ein weites, langes Seidengewand gehüllt. Ihr Haar floß offen über die Schultern. Auf dem Kopf trug sie die mit Edelsteinen besetzte Tatarenkrone von Kasan. So saß sie unbewegt, hochaufgerichtet, wie eine Statue auf einem goldenen Sessel, umflossen von schimmerndem Glanz.
    Von weither hörte man Pferdegetrappel. Iwan ritt in den Kreml ein.
    »Singt«, befahl die Zarin laut. »Das Gloria.«
    Schon beim Einreiten in den inneren Palasthof hörte Iwan den herrlichen Gesang. Er hielt sein Pferd an. »Was ist das? Die Mönche singen das Gloria?« Er stieg aus dem Sattel, warf die Zügel einem Strelitzen zu und eilte zum Tor, das in den Palast führte.
    Auf der Treppe blieb Iwan wieder stehen. Die herrliche Stimme von Vater Prokorij dröhnte durch das Haus.
    Langsam ging der Zar weiter. Das bleiche Gesicht vom Kerzenschein überflackert, auf dem Kopf die spitze Zarenmütze, in einem bestickten tatarischen Mantel, aber noch in den schwarzen Kettenstiefeln, so betrat Iwan den Saal, aus dem der Gesang ertönte. Die goldenen Ikonen leuchteten. Wie erstarrt in Demut saß die Zarin mitten im Raum und betete.
    Langsam nahm Iwan seine Mütze ab und verneigte sich vor den Heiligenbildern. Dann ging er hinter den goldenen Sessel und legte beide Hände auf Marjas Schultern. Als seine Finger mit ihrem seidigen schwarzen Haar spielten, lächelte sie und neigte den Kopf so weit nach rechts, daß ihre Wange seine Hand berührte.
    In Iwans Herzen zerbrach alles: Rache, Zweifel, Eifersucht, Grausamkeit. Seit seiner Kindheit liebte er schöne Stimmen, liebte er den Chorgesang der Mönche, und oft ließ er sie zu sich in den Kreml kommen und allein für sich

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