Der Leibarzt der Zarin
solchen gegrabenen Stollen.«
»Und die Rückkehr nach Moskau soll helfen?« fragte Iwan.
»Ich hoffe es.«
»Mein Sohn ist ein seelischer Krüppel! Die Krone des Reiches für einen Kretin! Und er sieht aus wie Anastasia, seine Mutter. Trottau, was muß ich leiden!« Der Zar legte den Kopf zurück. Sein schmales Gesicht mit der gebogenen Adlernase lag im flackernden Licht der Öllampen. Es war noch finster draußen, die Sonne brach noch nicht durch die tiefhängenden Schneewolken.
Um zehn Uhr hatte Iwan seine Minister sprechen wollen, um elf die Führer seiner Truppen – doch er hatte keine Lust dazu. Er dachte an die Bojaren in Moskau, an den Betrug, der Tag für Tag geschah, an die Lügen, die man vor ihm auftürmte, an die Heuchelei, die er glauben sollte – und an Rußland, das er liebte mit allen Fasern seines Herzens. Aber Rußland erwiderte diese Liebe mit Angst und Haß, weil alles, was geschah, im Namen des Zaren getan wurde.
»Die Bojaren werden den Zarewitsch töten«, sagte Iwan dumpf.
»Ich werde ihn begleiten«, erwiderte Trottau, »und über ihn wachen.«
»Du?« Iwans Kopf fuhr herum. »Du bist der Arzt der Zarin und mein Arzt. Du bleibst!«
»Es geht darum, Rußland den Zarewitsch zu erhalten.«
»Und ich bleibe nackt zurück! Nackt!« Der Zar rannte wie ein gefangenes Tier in dem großen Zimmer herum. »Ich habe dann keinen mehr, mit dem ich reden kann – reden wie ein Mensch! Du bist der einzige, Trottau! Und Marja? Denkst du gar nicht an Marja?« Iwan blieb stehen und verbarg sich wie ein geprügelter Hund hinter einem der flammenden Kohlebecken.
Sein Wahnsinn wird immer deutlicher, dachte Trottau. Aber es ist ein phantastischer Wahnsinn. Es ist das Verglühen eines Genies durch sich selbst … Man wird das nie begreifen. Auch spätere Zeiten werden Iwan nicht verstehen. Sie werden alle nur seine Grausamkeit sehen, seine unbegreifliche Schrecklichkeit … Aber niemand wird seine tiefe Einsamkeit kennen, seine ständige Flucht vor sich selbst, seine zum Irrsinn treibende Erkenntnis, daß er Rußland liebt und doch mit Blut regieren muß.
»Ich liebe Marja«, sagte der Zar leise hinter dem Kohlebecken. »Aber ich habe Angst vor ihr …«
»Die Entscheidung über Euren Sohn liegt bei Euch, erhabener Zar.« Trottau stand auf und ging zur Tür. »Hier in Alexandrowskaja sloboda verliert der Zarewitsch seine Seele.«
»Wo willst du hin?« schrie Iwan und rannte hinter Trottau her. »Willst du mich jetzt allein lassen, du Hund?«
»Ich muß nach der Zarin sehen. Sie verlangt jeden Morgen ein Pulver von mir.«
»Du bleibst bei mir, Trottau … Einen Arzt wie dich bekomme ich nie wieder! Einen neuen Zarewitsch kann ich jederzeit zeugen!«
Trottau verbeugte sich und verließ das Zimmer des Zaren.
An diesem Morgen gab er Marja, die im Bett auf ihn wartete, ein Pulver, das sie in einen Dämmerzustand versetzte.
»Küß mich«, sagte sie, bevor die Wirkung des Medikamentes eintrat. »Mein blonder Bär … Zehn Tage habe ich ohne dich gelebt. Wie kann man das bloß aushalten! Dieses verfluchte Wetter verhindert, daß Iwan zur Jagd reitet. – Komm leg dich zu mir! Prokoffia und Marussja wachen vor der Tür.«
Trottau gehorchte. Er wußte, daß sein Pulver gleich wirken mußte. Er küßte Marjas volle Lippen, streichelte ihr Haar und ihren Körper, bis der Dämmerschlaf sie einhüllte. Dann zog Trottau die leichten Nerzfelle über die Zarin und verließ schnell das Zimmer. Prokoffia und Marussja, die noch immer vor der Tür standen, starrten ihm verwundert nach.
Der Zar fuhr herum, als Trottau wieder bei ihm eintrat. Sein Possoch zuckte vor. Immer und überall dachte Iwan an Verrat, an ein Attentat. Er war stets gerüstet, sein Leben zu verteidigen.
»Alle verraten mich!« sagte er jetzt zu Trottau. »Alle. Auch du. Du bist ein kluger Hund … aber ich überführe dich auch noch, Trottau! Es gibt keinen Menschen, der nicht betrügt!«
»Die Zarin schläft wieder«, entgegnete Trottau und legte einen kleinen Lederbeutel auf den Tisch. »Ich habe ein neues Pulver ausprobiert … sie reagierte sofort darauf. Wenn Ihr jeden Morgen mit dem Zucker zwei Prisen dieses Pulvers in ihren Tee mischen laßt, wird sie ruhig wie ein Lamm bleiben.«
Iwan steckte den Lederbeutel in sein kaftanähnliches Gewand. »Ein gutes Pulver, Trottau … Ich werde es ihr fleißig geben.«
Nach dem Mittagsmahl ritt eine kleine Kolonne aus Alexandrowskaja heraus. Vierzig Gardereiter, fünfzig Packpferde und zehn
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