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Der leiseste Verdacht

Der leiseste Verdacht

Titel: Der leiseste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Brink
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wechselseitigen Zusicherung einer weiteren guten Zusammenarbeit beendeten sie das Gespräch.
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    Am selben Tag
    Er hatte soeben den letzten glühenden Schimmer der Sonne im See versinken sehen. Der Himmel verwandelte sich in ein grünblaues Dunkel, das zusehends undurchdringlicher wurde.
    Normalerweise ging er nach Sonnenuntergang hinein, doch am heutigen Abend blieb er unschlüssig sitzen und betrachtete schweigend die diffuse Silhouette dessen, was er als seinen Park bezeichnete: eine Anzahl verschiedener Bäume, hauptsächlich Eschen und Birken. Bäume, die er vor Jahren auf dem Abhang zwischen Haus und See eigenhändig gepflanzt hatte. Ein paar mächtige Balsampappeln flankierten das Grundstück zu beiden Seiten und verströmten einen betörenden Duft. Heute Abend betrachtete er sie mit Wehmut, wie etwas, das er bald verlassen musste. Seine Gedanken irrten rastlos zwischen den Eindrücken des Augenblicks und den bedrückenden Ereignissen der letzten Wochen hin und her. Sein Grundgefühl war Angst. Eine diffuse, beklemmende Angst vor etwas, das er nicht benennen konnte.
    Unaufhörlich suchte er nach Auswegen und Erklärungen, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Wenn er nur nicht so verdammt einsam wäre. Es gab niemanden, den er um Hilfe bitten oder um Rat fragen konnte. Er musste selbst entscheiden, wie gefährlich die Situation war.
    Die Stille wurde von der aufdringlichen Stimme eines Nachrichtensprechers brutal unterbrochen. Mit gequälter Miene versuchte er die monotonen Geräusche des Fernsehers, die aus dem Inneren des Hauses drangen, auf Distanz zu halten. Sie verursachten ihm beinahe Übelkeit. Plötzlich stand seine Frau in der Terrassentür und fragte verwundert: »Sitzt du immer noch hier draußen? Im Dunkeln? Willst du die Nachrichten nicht sehen?«
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    Mangelnde Sensibilität konnte er ihr nicht vorwerfen, da er sich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Regel pünktlich um diese Zeit vor den Fernseher gesetzt hatte.
    »Nein, ich hab keine Lust«, sagte er kurz angebunden.
    Doch wenn er sich einbildete, das Thema damit vom Tisch zu haben, hatte er sich getäuscht. Denn seine Frau, die ein solches Verhalten von ihm nicht gewohnt war, brachte ihre
    Beunruhigung sofort zum Ausdruck: »Ist was passiert?«
    Seine Verärgerung wuchs. »Muss denn irgendwas passiert sein, nur weil ich keine Lust auf die Nachrichten habe?«
    »Ja«, antwortete sie mit ungewöhnlicher Entschiedenheit.
    »Wenn du mit einer Gewohnheit brichst, die niemand in deiner Umgebung gewagt hätte, in Frage zu stellen, dann muss etwas passiert sein.«
    »Gewagt hätte, in Frage zu stellen …? Du tust ja gerade so, als hätte ich jahrelang meine Umgebung terrorisiert. Ich kann mich an viele Tage erinnern, an denen ich weder Zeit noch Lust auf die Nachrichten hatte.«
    »Aber irgendwas ist doch los mit dir«, beharrte sie. »Du wirkst so niedergeschlagen.«
    Er seufzte gequält und entschied sich, die Chance des Augenblicks zu nutzen. Warum sollte er ihr nicht sein Herz ausschütten? Alles auf einmal konnte er ihr nicht zumuten, doch er wusste schließlich seit langem, dass er irgendwann damit beginnen musste, sie auf die Zukunft vorzubereiten.
    »Wenn du so lieb sein würdest, den Fernseher auszuschalten, dann können wir uns hineinsetzen«, sagte er.
    Der Raum lag im Halbdunkel, nur eine Leselampe neben seinem Sessel leuchtete. Er bat sie, die Deckenbeleuchtung nicht einzuschalten.
    »So ist es mir angenehmer, meine Augen sind ein wenig erschöpft«, sagte er.
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    Er wartete, bis sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, und setzte sich neben sie. Als sie sich an ihn schmiegte, legte er den Arm um ihre Schultern und wiegte sie, wie es ihre Gewohnheit war, sacht hin und her, als wolle er sie so weit wie möglich entspannen. Doch im Grunde wollte er sich selbst beruhigen.
    »Du weißt doch, wie oft ich an unsere Zukunft denke«, begann er leise und vertraulich. »Wenn ich bei der Reichspolizei aufhöre, steht unserem Glück nichts mehr im Wege«, sagte er und drückte sie leicht. »Dann werden wir aus diesem engen Land verschwinden, überlassen Haus und Boot den Kindern –
    sie sollen teilen oder sich drum schlagen – und brechen zu irgendeiner spärlich besiedelten Südseeinsel auf, aber zuerst schauen wir uns China an, und du wolltest doch auch nach Indien. Ob die Lebensbedingungen in der Südsee allerdings so gut sind, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht sollten wir doch in Europa bleiben. Eine kleine Villa am Genfer See,

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