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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Cleesewood trifft sich im Institut mit Michael
Broadbent. Warum? Das ist die Frage. Und die Antwort lautet: Weil er vermutete,
dass Michael der Mörder war. Woher ich das weiß? Aus den Institutsunterlagen.
Die belegen nämlich unter anderem, welcher Rechner im Institut zu welcher
Uhrzeit hochgefahren war. Warum hat die Polizei die Rechner nicht überprüft?
Hat sie. Doch jemand hatte sie manipuliert. Dank Renas telefonischer Hilfe habe
ich das herausgefunden. Und sogar, wer die Daten manipuliert hatte: Michael
selbst.«
    Kein Raunen ging durch die Reihen – schließlich hielt man aufgrund
des Abschiedsbriefs ohnehin Michael für den Doppelmörder.
    Â»Bei diesem Treffen liegt vieles im Dunkeln. Worüber sprachen
Michael und Cleesewood miteinander? Der Mörder wird uns später davon berichten,
denn er hat Michael sicher eingehend befragt, bevor er ihn vom Glockenturm
Great St Maryʼs warf. Meine Vermutung ist, dass Jonathan Cleesewood anhand des
Fotos von der Leiche des Earls erkannt hatte, mit welcher Meisterschaft der Tee
im Punting-Boot aufgebrüht worden war. Vielleicht hatte Michael ihm auch von
seinem Teekauf erzählt, oder Cleesewood hatte eine Veränderung in Michaels
Verhalten festgestellt. Zumindest kam es zu einem Gespräch. Klar ist, dass
Jonathan Cleesewood an diesem Abend vergiftet wurde – und zwar mit dem Gift des
Fugu-Fisches. Es wurde im Besitz von Michael Broadbent gefunden, und zwar an
einem Ort, wo es ihm unmöglich untergeschoben worden sein kann. Deswegen müssen
wir annehmen, dass er es Cleesewood verabreicht hat. So wie er es in seinem
Bekennerbrief geschrieben hat.«
    Bietigheim holte den vorbereiteten Tee hervor. Der war mittlerweile
zwar kalt – doch das war für seinen Zweck nicht von Belang. Er goss ihn in
sechs bereitstehende Schalen.
    Â»Bei seiner Mordmethode machte Michael sich vermutlich Jonathan
Cleesewoods Hang zur sechsten Schale zunutze. Dieser trank nämlich immer sechs
Aufgüsse eines Tees, ausnahmslos. Man musste also nur nach dem Genuss von fünf
Schalen Gift in die Teekanne geben und Cleesewood dann die sechste Schale
einschenken. Nachdem fünf Schalen unbedenklich gewesen waren, trank er sicher,
ohne Böses zu ahnen, den Tee, als Michael seine Schale zum sechsten Mal
auffüllte. Und starb. Die sechste Schale zu trinken war eigentlich keine
schlechte Gewohnheit, doch es war seine tödlichste.« Bietigheim machte eine
kurze Pause.
    Â»Wir haben also zwei Mörder«, fuhr er dann fort. »Oder sogar drei?
Denn Michael Broadbents Selbstmord war keiner. Das ließ er uns durch einen
Hinweis in seinem Abschiedsbrief wissen. Sie erinnern sich sicher alle noch an
die Zeilen: Danach habe ich mich seiner Leiche auf dieselbe
Art entledigt wie der von Professor Shropsborough, damit es nach einem
verrückten Serientäter aussehen würde. Ich habe alles genauso gemacht wie bei
der ersten Leiche. Doch es war nicht alles genau wie bei der ersten
Leiche. Das verwendete Wasser war ein anderes, und es fehlte auch die
Achtsamkeit, mit welcher der Tee im ersten Fall aufgebrüht worden war. Was
Michael auch genau wusste. Außerdem nutzte er nicht die Sherlock-Holmes-Tinte,
die für Mitglieder der Port Wine Society bei allen wichtigen Schriften
verpflichtend ist und welche sie deshalb immer bei sich tragen. Gerade bei
seinem letzten Brief hätte Michael dies beachtet. Zwei Hinweise, die zeigen,
dass mit diesem Brief, mit diesem Abschied etwas nicht stimmt. Dass er
keineswegs freiwillig war. Sondern nur die Ouvertüre eines Mordes. Lassen Sie
uns zu Great St Maryʼs gehen. Es sind nicht viele Schritte, meine Damen und
Herren, und unsere letzte Station an diesem denkwürdigen Abend.«
    Richard A. Unsworth, der Belfry Maintenance Officer, öffnete die
nötigen Türen. Trotz aller Beteuerungen der Politik waren die Schlösser noch
nicht ausgetauscht worden. Nach über hundert Stufen standen die Pub-Quizzer auf
dem Glockenturm. Der Nachtwind pfiff unmelodisch über die Zinnen, der Mond
schien so hell, als gelte es, Weiße Nächte zu erleuchten. Langsam ging der
Professor zur Stelle des Sicherheitszauns, über die Michael Broadbent geworfen
worden war.
    Â»Wenn Michael sich nicht selbst das Leben nahm, sondern umgebracht
wurde, lautet die grundlegende Frage: Wer ist im Besitz der Schlüssel für den
Glockenturm? Die Tür war nicht aufgebrochen, und die Polizei fand auch

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