Der letzte Aufstand
denen ich spreche. Ein wenig später trifft man dann auf den Teil der Leber, der hinter dem Magen liegt. Dort darf man nicht weiter stechen, sonst ist das Spiel zu schnell vorbei. Aber es tut höllisch weh, sag ich dir. Und das ist erst der Anfang.“
Kahil schrie auf wie ein verletzter Wolf. „Lea!“
Aus der Ferne kam eine Antwort. „Sag nichts, Kahil! Sag n ...“ Ihr Antworten wurde unterbrochen, dann schrie sie wieder.
„Wir werden vorne zwanzig verschiedene Stiche setzen, dann wenden wir uns dem Rücken zu. Aber das tun wir erst morgen, und in der Nacht wird sie an ihren Wunden fast verbluten. Aber eben nur fast. Sie wird fiebrig neben dir liegen, vielleicht nach ihrer Mutter verlangen. Sie wird zittern, fast erfrieren, ohne die Wärme von genug eigenem Blut.“
Henk nahm sein Holz wieder von der Bank. Er legte das Vard zum Rucksack zurück. Wiederum, in aller Ruhe, schnitzte er an dem Stück Holz rum. Kleine Holzspäne flogen auf den erdigen Boden vor der Hütte, bildeten einen kleinen Haufen.
Minuten verstrichen. Nur die Amsel und einige ihrer Federfreunde in benachbarten Bäumen waren zu hören. Kahil begann zu weinen.
Wieso war die Welt so wie sie war? Woher kam das Böse in den Menschen? Wieso wurden die Lehren der Friedfertigkeit, so wie sie doch von fast allen Religionen gepredigt wurden, von den Menschen so grosszügig missachtet? Tränen, viel zu süss, denn sie sollten jetzt bitter sein, rollten seine unrasierten Wangen hinab, bahnten sich einen Weg über die Bartstoppeln hinweg.
Härte wird nicht durch Härte besiegt. Härte wird durch Weichheit besiegt. Durch Wärme und Weichheit. Kahil dachte an den Spruch seines Mullahs. Er hatte ihn schon unzählige Male gehört. Wie brach er die Härte dieser Menschen mit Wärme, fragte er sich. Sicher, eine harte Klinge aus Stahl wurde durch Wärme zum Schmelzen gebracht und verlor dadurch ihre Gefährlichkeit, aber wie wendete man Wärme in solch einer Situation hier an? Kahil wischte sich die Tränen weg, indem er seine Backen an den Schultern rieb. Die Tränen vermischten sich mit der Erde, die an seinen Schultern klebte.
Ich muss die Strategie wechseln. Mit sturem Schweigen wird Lea die nächsten zwei Tage nicht überleben, dachte er.
„Ich weiss, wie du dich fühlst.“, sagte er dann.
Henk richtete den Kopf auf, sah ihn mit fragenden Augen an.
„Ich musste vor fünf Jahren die Schwester eines Feindes so lange quälen bis sie mir sagte, wo er sich versteckt hielt. Es war eine doppelte Schlacht, die ich führte: eine gegen die junge Frau, die so tapfer widerstand, und eine gegen mein Gewissen, das genau wusste, dass ich etwas Falsches tat. Deswegen weiss ich, wie du dich fühlst.“
Henk gab keine Antwort.
☸
Paris, „Tag X“
Yeva und Guillaume fuhren mit dem selben Taxi zurück in die Stadt.
„Was ist das für ein Komplex? Ich wusste gar nicht, dass es hier beim Flughafen so etwas gibt.“, sagte der Taxifahrer.
„Es ist eine psychiatrische Klinik. Die gibt es aber auch noch nicht so lange, kein Wunder haben Sie noch nie jemanden hierher fahren müssen.“, antwortete Guillaume.
„Wenigstens baut der Staat jetzt neue Psychiatrien. Dann kann man die Verrückten einsperren, bevor sie irgendeinen Scheiss tun. Gestern wurde der Vater meines besten Freundes in Kalkutta einfach von einem Dach gestossen. Er und sechs weitere alte Menschen. Ich sage Ihnen, wir brauchen solche Psychiatrien und zwar hunderte davon, wenn das so weiter geht.“
Guillaume nickte dem Fahrer zu. „Allerdings!“
Nach fünfundvierzig Minuten Stop and Go auf der Peripherie steuerte der Fahrer seinen Peugeot endlich der Porte D‘Indy zu, um die Autobahn zu verlassen. Zehn Minuten später bezahlten sie die Fahrt und standen vor dem Ritz.
Es gab noch einiges, was vor der Vereitlung des grösseren Terroranschlages von heute Abend getan werden musste. Als erstes stand beispielsweise die Eichung an.
Unter Eichung verstanden die B-Teams weltweit, das Richten der Intention auf die kommenden Ereignisse und das Aufarbeiten von möglichen Traumen. Vor allem nach einem Einsatz musste sicher gestellt werden, dass der Einsatz ganz und total abgeschlossen war, und das war primär eine Sache, die ruhig im Kopf geschehen musste.
Guillaume legte sich im Doppelbett ihres Hotelzimmers neben Yeva, die bereits in der Eichung versunken war. Er hatte unten noch kurz etwas mit der Rezeption besprochen, während sie schon hoch gegangen war. Die Rezeption würde sie
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