Der letzte Beweis
taktisch.«
»Was denn dann?«
Stern setzt einen seiner komplizierten Gesichtsausdrücke auf, als wollte er sagen, dass Sprache nicht richtig wiedergeben kann, was er empfindet.
»Einsam, wenn ich mich für ein Wort entscheiden müsste.«
Natürlich bin ich perplex.
»Ich kenne Ihren Vater seit dreißig Jahren gut, und ich würde unser Verhältnis als vertraut bezeichnen. Aber nur in beruflicher Hinsicht. Er spricht kaum über sich. Fast nie.«
»Willkommen im Club.«
»Ich möchte damit nur deutlich machen, dass ich mich ausschließlich auf meine eigene Einschätzung berufe, nicht auf irgendetwas, das er mir erzählt hat. Aber wir hatten schon so manchen interessanten Abend, Ihr Vater und ich. Ich würde sagen, seine Überlebenschancen sind besser als meine.« Sterns Lächeln ist kläglich, und seine Hand greift ein paar Zentimeter ins Leere, nach der fehlenden Zigarre. In einem Punkt sind mein Dad und ich uns auf jeden Fall einig: Wir müssen Sandy nicht fragen, wie seine Aussichten auf Genesung stehen; sobald er sich wieder eine Zigarre anzündet, werden wir wissen, dass es hoffnungslos ist. »Aber ich fühle mich weit stärker in diese Welt eingebunden, als er es ist.«
Ich nicke. »Manchmal scheint er zu denken, dass er seinen Körper verlassen hat und einfach nur zusieht, wie das alles jemand anderem passiert.«
»Ganz genau«, antwortet Stern. »Und sehr zutreffend. Es hat ihn nicht sonderlich interessiert, ob seine Aussage ihm schaden oder nutzen würde. Er wollte erzählen, was tatsächlich passiert ist. Den Teil davon, den er kennt.«
Meine Reaktion auf Stern verblüfft mich selbst: »Er wird nie irgendwem irgendwas erzählen.«
Stern lächelt wieder, versonnen, weise. Eines ist klar: Sandy Stern genießt diese Unterhaltung. Offensichtlich hat er in fast so vielen schlaflosen Nächten wie ich über die vielen Rätsel meines Vaters nachgedacht.
»Aber Ihnen, Nat, wollte er so viel erzählen, wie er konnte.«
»Mir?«
»Oh, ich habe keinen Zweifel daran, dass er fast ausschließlich deshalb ausgesagt hat, um Ihr Vertrauen in ihn zu bestärken.«
»Es mangelt mir nicht an Vertrauen.« Das ist in gewisser Weise eine Lüge. Die Logik des Falles spricht tatsächlich gegen meinen Vater, und das sehe selbst ich. Aber es läuft meinem innersten Wesen dermaßen zuwider, meinen Vater als Mörder zu sehen, dass ich diesen Strom des Glaubens einfach nicht überqueren kann. Wenn ich nicht schon so verdammt viele Jahre zu Therapeuten gerannt wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich zu einem rennen, aber im Grunde kann einem keiner wirklich dabei helfen, die Art von Fragen zu beantworten, mit der ich mich derzeit herumschlage. Selbst wenn mein Vater schuldig wäre, würde das ja nicht bedeuten, dass er mir ein Jota weniger Liebe und Zuwendung geschenkt hätte. Doch die meisten anderen Lektionen fürs Leben, die ich von ihm gelernt habe, würden sich in nichts auflösen. Es würde bedeuten, dass ich von einem Maskierten großgezogen wurde, dass ich eine Verkleidung geliebt habe, nicht ihn. »Das sieht er anders.«
Ich zucke die Achseln. »Manches ist schwer zu begreifen.«
»Natürlich«, antwortet Stern. Wir schweigen beide.
»Halten Sie ihn für schuldig, Mr Stern?« Er hat schon mehrfach gesagt, ich soll ihn Sandy nennen, aber nach einem Jahr am Obersten Gericht, wo alle Anwälte Mr oder Ms waren und alle Richter mit Euer Ehren angesprochen wurden, bringe ich das einfach nicht über mich. Stattdessen beobachte ich, wie Stern über meine Frage nachdenkt. Ich weiß, es ist unfair und ungehörig, einen Anwalt, der versucht, eine Verteidigung auf die Beine zu stellen, mit dieser Frage zu konfrontieren. Ich rechne mit einer ausweichenden Antwort. Aber inzwischen haben wir beide die juristischen Spielfeldbegrenzungen längst überschritten. Sandy ist ein Vater, der sich mit dem Kind eines guten Freundes unterhält.
»In unserer Branche lernt man, nie zu viel als gegeben vorauszusetzen. Aber in dem ersten Prozess war ich absolut von der Unschuld Ihres Vaters überzeugt. Die neuen Ergebnisse der DNS-Untersuchung waren für mich ein entsetzlicher Schock, zugegeben, aber selbst jetzt noch gibt es einige einleuchtende Hypothesen dafür, dass er damals unschuldig war.«
»Zum Beispiel?«
»Offen gestanden, Nat, die Probe war schon beim ersten Prozess äußerst umstritten, und bis heute liegen keine besseren Antworten vor.«
Anna hat dasselbe zu mir gesagt, dass das Ganze total undurchsichtig war.
»Aber selbst
Weitere Kostenlose Bücher