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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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an.
    »Morgen wird etwas zur Sprache kommen, Nat«, sagt er. Ich warte, aber er verstummt und runzelt nur die Stirn. »Ich kann noch nicht darüber reden. Tut mir leid.« Er steht nutzlos da, wohl wissend, dass er nicht den Freiraum hat, mehr zu sagen oder zu tun, aber irgendwie auch unfähig, diese Tatsache zu akzeptieren. Ich bin sicher, an diesem Punkt hängt sein Verstand seit Monaten fest, immer auf der Suche nach den Tasten, die die ganze Situation rückgängig machen.
    »Brauchst du irgendwas, Dad? Irgendwas von zu Hause?«
    Er nimmt sich einen Moment Zeit, um über meine Frage nachzudenken. »Ich hätte furchtbar gern eine andere Krawatte«, sagt er schließlich, als würde er um ein Eis bitten, um etwas, wonach er im hintersten Winkel seines Gehirns lechzt. »Ich trage schon seit drei Wochen dieselben zwei Krawatten. Würdest du für mich hinfahren? Bring doch bitte gleich vier oder fünf mit, Nat. Am liebsten hätte ich die violette, die mir deine Mom mal zu Weihnachten geschenkt hat.« Ich weiß noch, dass meine Mom meinte, das würde seinen üblichen Billigstil verfeinern.
    Um meinem Vater in seiner prekären Lage ein wenig unter die Arme zu greifen, habe ich ihm von zu Hause öfter ein paar persönliche Dinge geholt, die er benötigt. Etwa einen Monat vor Beginn des Prozesses ist mein Vater für die Dauer der Verhandlungen in ein Hotel in die Innenstadt gezogen. Er wollte vor und nach den langen Tagen im Gericht keine Zeit mit Pendeln verlieren. Doch vor allen Dingen hatte er, glaube ich, die unangenehmen Pressetypen satt, die jedes Mal, wenn er kam oder ging, mit gezückten Kameras aus den Büschen sprangen.
    Er wohnt jetzt im Miramar, das trotz des Namens keineswegs in Meeresnähe liegt und zu der Sorte Hotels zählt, die lieber ihr Schild und ihre Klientel ändern als zu renovieren. Das Mobiliar in der Lobby könnte, so wie es aussieht, schon dort gestanden haben, als George Washington hier übernachtete, und in zwei Ecken seines Zimmers hängt die Tapete herunter wie die Zunge eines sabbernden Hundes. Das alles scheint meinen Dad nicht zu stören. Er kommt sowieso nur zum Schlafen her, nachdem Stern und er sich auf den nächsten Tag vorbereitet haben. Dann und wann reißt er einen müden Witz darüber, dass er sich schon an kleinere Räumlichkeiten gewöhnt.
    Im Grunde lebt er zurzeit nur in seinem Kopf, und sein Kopf wird fast ausschließlich von den Details des Prozesses in Beschlag genommen. Wenn er nicht im Gericht ist, beschäftigt er sich in Sterns Kanzlei mit juristischen und sachlichen Fragen. Das ist verwunderlich, weil er sich hinsichtlich des Prozessausgangs keinerlei Hoffnungen zu machen scheint, aber ich schätze, er kann nur so damit umgehen. Es wäre besser, wenn er ein paar Freunde hätte, die ihn ablenken könnten, aber mein Dad ist auffallend einsam. Angesichts der Anklage, vor allem da es sich um die zweite handelt, reißt sich niemand um ihn, zumal er nie ein besonders ausgeprägtes Sozialleben hatte. Meine Mom war ziemlich phobisch, wenn sie das Haus verlassen sollte, konnte es aber nicht ausstehen, wenn er mal allein ausging. Selbst seine früheren Kollegen melden sich kaum bei ihm. Er war am Gericht eine ziemlich abgehobene Gestalt, und George Mason, sein einziger wirklich guter Freund dort, ist wie ich ein Zeuge, der im Augenblick auf Distanz bleiben muss. Seine Affäre, über die ich mich vor Monaten noch so aufgeregt habe, wäre zurzeit wahrscheinlich gar nicht schlecht, und sei es nur, damit er mal mit jemandem essen oder ins Kino gehen kann. Aber er scheint an nichts anderem interessiert als an dem Fall und verbringt das bisschen freie Zeit, das er hat, lieber allein.
    Er scheint nicht mal gern mit Anna und mir zusammen zu sein. Wir haben uns ein paarmal abends getroffen, aber es lief immer ziemlich steif ab. Obwohl er so große Stücke auf Anna hielt, als sie noch seine Referendarin war, redet er anscheinend in dieser schweren Zeit nicht gern, wenn sie dabei ist, und wir drei verfallen oft in Schweigen. Ab und an, wenn Anna Überstunden macht oder beruflich verreisen muss, esse ich auch mal mit ihm zu Abend, was erlaubt ist, solange wir nicht über den Fall sprechen. Er erinnert mich sehr an meinen alten Studienfreund Mike Pepi. Seine Frau hat ihn wegen ihres Chefs bei River National verlassen, und jetzt kennt er praktisch nur noch ein Thema: seine Scheidung. Mike kann eine halbe Stunde lang gegen LeeAnn und die Anwälte wettern und dann abrupt sagen: »Reden wir von was

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