Der letzte Beweis
anderem«, um dann gleich die nächste Tirade loszulassen.
Mein Dad verhält sich ganz ähnlich. Wahrscheinlich würde er am liebsten haarklein alle vor Gericht gestellten Fragen und Antworten sezieren, aber da er mit mir wirklich nicht darüber sprechen darf, redet er viel über seine Gemütsverfassung. Wieder und wieder hat er gesagt, dass er die derzeitige Geschichte völlig anders erlebt als die vor rund zwanzig Jahren. Damals, so sagt er, konnte er das alles gar nicht glauben und wünschte sich ständig in sein altes Leben zurück. Jetzt macht er sich auf eine tektonische Verschiebung gefasst. Er spricht beiläufig davon, dass er ins Gefängnis kommt. Doch selbst wenn er freigesprochen wird, die DNS-Ergebnisse aus dem ersten Prozess werden an die Presse gegeben, sobald die Geschworenen ihr Urteil gefällt haben. Kenner der Materie mögen ja die Argumente begreifen, bei denen es um kontaminierte Proben oder die anderen Liebhaber des Opfers geht, doch diese Nuancen werden nicht in die Schlagzeilen kommen. Im Falle eines erneuten Freispruchs wird mein Dad von praktisch jedem gemieden werden, dem sein Name was sagt.
Jetzt, vor Martas Büro, umarme ich meinen Dad, wie jeden Abend, bevor ich gehe, und verspreche, ihm die Krawatten am nächsten Morgen zu bringen. Der kleine blaue Prius, den Anna sich vor einem Jahr gekauft hat, steht am Straßenrand.
»Macht es dir was aus, wenn wir noch schnell nach Nearing fahren?«, frage ich sie, nachdem ich ihr einen Kuss gegeben habe. »Er braucht ein paar Krawatten.«
Würde man eine Krawatte tragen wollen, die das Geschenk einer Frau war, die man getötet hat? Oder ist mein Vater böse und raffiniert genug, um vorauszusehen, dass ich mir genau diese Frage stellen werde? In dieser Art von Nebelkammer, in der die Fragen in alle Richtungen fliegen und ihre dünnen Kondensstreifen hinter sich herziehen, lebe ich seit Monaten. Während der letzten Stunde habe ich viel über Sterns Bemerkung nachgedacht, dass mein Vater in den Zeugenstand getreten ist, um mein Vertrauen in ihn zu bestärken. Ich weiß, mein Dad hat panische Angst, mich zu verlieren. Als Eltern waren er und meine Mom immer so begierig nach meiner Liebe, dass es für uns alle schon fast quälend war. Aber wenn mein Dad gerade jetzt die Verbindung zu mir verlöre, würde ihm das ein ganz ähnliches Ende bescheren wie seinem eigenen Vater, der allein irgendwo im Westen in einem von diesen Blechdosenwohnwagen starb.
»Wie war er?«, fragt Anna, nachdem wir schon eine Weile unterwegs sind. Sie hat sich an meine längeren Schweigephasen gewöhnt, vor allem nach einem Verhandlungstag.
»O Gott«, antworte ich und grüble einfach weiter vor mich hin, während wir uns durch den dichten Innenstadtverkehr Richtung Nearing Bridge schieben. Auf der Straße ist ein Fahrradbote auf einem Einrad und in einem Ganzkörperhasenkostüm unterwegs. Die langen Ohren wippen, während er in die Pedale tritt. Bei seinem Anblick ergibt die Vorstellung von der Welt als Bühne für mich absolut Sinn. »Hast du irgendwas gelesen?«, frage ich.
»Frain«, sagt sie. »Der hat schon was ins Internet gestellt.« Michael Frain schreibt unter dem Titel The Survivors Guide eine landesweite Kolumne mit kuriosen Kommentaren zu kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen. Er ist mit einer hier ansässigen Bundesrichterin verheiratet, und um nicht so viel reisen zu müssen, neigt er dazu, sich auf lokale Geschehnisse zu konzentrieren, die auch im übrigen Land Unterhaltungswert haben. Er hat schon so einiges über den Prozess meines Vaters geschrieben und glaubt anscheinend, dass mein Dad damals tatsächlich als Mörder ungestraft davongekommen ist. »Schlimm?«
»>Wie ein Bombenangriff auf ein wehrloses Dorf.<«
»So furchtbar fand ich es eigentlich nicht. Mein Dad hat auch ein paar Treffer landen können. Und Sandy hat irgendwas in der Hinterhand, worüber sie nicht reden wollen, ehe ich morgen noch mal in den Zeugenstand gehe.« Trotzdem hallt das Wort »Bombenangriff« nach. Ich lasse Revue passieren, was ich heute Nachmittag gehört habe. Von Minute zu Minute fand ich es schlimmer, mit ansehen zu müssen, wie auf ihn eingehackt wurde wie auf den an den Felsen gefesselten Prometheus. Aber nach dem Gespräch mit Sandy kommt es mir so vor, als hätte mein Dad einen extrem unruhigen Flug hinter sich gebracht, um dann doch irgendwie sicher zu landen, eher verängstigt als verletzt.
»Weißt du noch, ob meine Mutter an dem Abend den Wein
Weitere Kostenlose Bücher