Der letzte Beweis
und Würden waren, Bestechungsgelder kassierten. Tommy versuchte gar nicht erst, zu verstehen, warum manche Menschen ihre eigenen Werte verleugnen mussten. Dafür wurde er nicht bezahlt. Seine Aufgabe war es, Beweise zu sammeln, sie zwölf Geschworenen vorzutragen, und dann zum nächsten Fall überzugehen. Aber nach dreieinhalb Jahrzehnten wusste er eines über Rusty Sabich: Er war kein kranker Wichser. Verkniffen? Und wie! Imstande, einer Frau wie Carolyn dermaßen zu verfallen, dass sie zur einzigen Wahrheit wurde, die er kannte oder glaubte? Auch das war möglich. Durchaus denkbar, dass er ausgerastet war und sie erschlagen und dann seine Tat vertuscht hatte. Aber eines hatte Tommy stets von sich selbst verlangt, solange er in dem hochlehnigen Ledersessel saß, in dem jeder Oberstaatsanwalt der letzten zwanzig Jahre seinen Hintern geparkt hatte, nämlich Ehrlichkeit. Und die Konfrontation mit Rusty im Gerichtssaal hatte Tommy gezwungen, sich Fragen zu stellen, die er fast ein Jahr lang beiseitegeschoben hatte. Folgendes nagte an ihm: Ein derart kalkuliertes Verbrechen, das über Monate hinweg geplant und im Verlauf einer ganzen Woche ausgeführt worden war, schien nicht zu dem Mann zu passen, den er schon so lange kannte.
Tommy war sich bewusst, dass niemand gemeiner mit ihm umging als Tomassino Molto III. Er neigte dazu, sich selbst das Leben schwer zu machen, und genau das tat er im Augenblick. Das hing irgendwie mit diesem katholischen Märtyrergedanken zusammen. In einer Minute, einer Stunde, wäre er wieder auf Kurs. Es hatte sowieso keinen Sinn, sich weiter damit herumzuschlagen. Es war einer von diesen Gedanken, mit denen man sich ohnehin nicht gern befasste - wie das Nachdenken über den Augenblick, in dem man sterben würde, oder wie das Leben wäre, falls Tomaso etwas zustieße. Und jetzt, während Brand und Rory herumfrotzelten, verweilte Tommy eine Minute lang bei einem Gedanken, der ihm seit Monaten nicht mehr in den Sinn gekommen war. Es sprach alles dagegen, die Wahrscheinlichkeit, die Beweislage und die reine Vernunft, aber er stellte sich die Frage dennoch: Was, wenn Rusty unschuldig war?
Kapitel 28
Nat, 22. Juni 2009
Wie jeden Abend kehren wir in die Schickimicki-Kanzlei von Stern & Stern zurück. Sandy zählt zu den Leuten, die es aus kleinen Verhältnissen zu etwas gebracht haben und sich gern mit den Insignien ihres Erfolges umgeben. Marta, deren Lässigkeit vermutlich eine bewusste Abgrenzung zu ihrem Vater ist, witzelt manchmal hinter seinem Rücken, dass sie das Ganze an ein auf edel getrimmtes Steakhaus erinnert - jede Menge dunkles Holz und gedämpftes Licht von den Buntglaslampen, Ledermöbel und Kristallkaraffen auf den Konferenztischen. Außerdem herrscht hier eine gediegene Stille im Vergleich zu der Atmosphäre in anderen Anwaltskanzleien, die ich kenne, als wäre Sandy über alltägliche Störungen erhaben. Hier blinken die Telefone eher, als dass sie klingeln, und die Computertastaturen sind geräuschlos.
Aber seit wir im Gericht unsere Sachen gepackt haben, herrscht eine andere Stille vor. Stern achtet strengstens darauf, nichts in Hörweite von irgendjemanden zu besprechen, der ein vermeintlich harmloser Verbündeter von Molto oder ein Verwandter eines der Geschworenen sein könnte, und folglich habe ich gelernt, dass jede Konversation im Fahrstuhl des Gerichtsgebäudes auf aktuelle, vorzugsweise unbelastete Themen wie Sport beschränkt bleibt. Doch als wir heute nach unten fuhren, fiel kein einziges Wort, nicht mal die üblichen Belanglosigkeiten. Obwohl es bis zum LeSueur Building nur ein paar Blocks sind, muss Sandy die kurze Strecke gefahren werden, und er bat mich, zu ihm und meinem Dad in seinen Cadillac zu steigen, weil er meine Zeugenaussage für die Verteidigung mit mir durchgehen will, die vermutlich morgen Nachmittag beginnt. Manchmal spricht Sandy beim Verlassen des Gerichtsgebäudes kurz mit der riesigen Pressemeute, die jeden Abend auf die Anwälte beider Parteien wartet, doch heute humpelte er mit uns im Schlepptau durch das Gedränge hindurch, ohne anzuhalten, und murmelte nur: »Kein Kommentar.«
Sogar im geschützten Raum des Wagens sagten wir so gut wie nichts. Offensichtlich brauchte jeder Zeit, um aufzutanken und abzuschätzen, wie viel Schaden Molto angerichtet hat. Mein Dad starrte die ganze Zeit aus dem Fenster und erinnerte mich unwillkürlich an einen Verurteilten, der im Polizeibus zum Gefängnis gebracht wird und auf die Straßen blickt,
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