Der letzte Beweis
über die er nicht mehr schlendern wird.
Oben angekommen, wird der übliche Ablauf am Ende eines Verhandlungstages auf den Kopf gestellt. Mein Dad zieht mit Marta ab, während Stern mit mir in sein geräumiges Büro geht und die Tür schließt. Er bestellt bei einer seiner Assistentinnen Light-Getränke für uns beide, und wir setzen uns Seite an Seite in zwei hohe kastanienbraune Ledersessel. Sandys Büro wirkt so edel wie ein Museum. Die Wände sind mit Pastellzeichnungen von Sandy vor Gericht behängt, und auf den Tischen stehen etliche Plastikbehälter mit Beweisstücken aus seinen spektakulärsten Prozessen. Ich trau mich nicht mal, mein Glas abzustellen, bis er mir einen Korkuntersetzer rüberschiebt.
Wie sich herausstellt, ist meine Besprechung mit Stern hauptsächlich diplomatischer Natur. Meine ersten Gespräche über den Fall, in denen ich auch erfuhr, welche Beweise gegen meinen Dad vorlagen, führte ich mit Sandy, der sich damals redlich Mühe gab, die positiven Aspekte hervorzuheben, nämlich dass Tommy nichts von Todesstrafe gesagt hatte und außerdem damit einverstanden gewesen war, dass meinem Vater Kaution gewährt wurde. Doch seitdem versuche ich meistens, Marta zu helfen, wenn ich in der Kanzlei bin. Daher haben Marta und er beschlossen, dass es besser wäre, wenn sie mich im Zeugenstand befragt. Stern will sichergehen, dass ich keine Einwände habe.
»Ich mag Marta«, erkläre ich.
»Ja, ihr beide habt offenbar einen guten Draht zueinander. Ich bin sicher, ihr werdet zusammen einen guten Eindruck auf die Geschworenen machen.« Er trinkt ein paar Schlucke. »Und, welchen Eindruck hat man so auf der Zuschauerbank? Was halten Sie vom heutigen Verhandlungstag?« Eine der vielen Stärken Sterns, die ich im letzten Monat bemerkt habe, ist seine völlige Furchtlosigkeit vor Feedback. Außerdem, da bin ich mir sicher, möchte er den emotionalen Zustand, in dem ich aussagen werde, seismisch messen.
»Ich fand, Molto hat seine Sache sehr gut gemacht.«
»Das fand ich auch.« Dann kommt der trockene Husten, wie so oft, als Satzzeichen. »Tommy ist mit zunehmendem Alter ein besserer Anwalt geworden. Er kocht jetzt auf kleinerer Flamme. Aber so gut wie heute hab ich ihn noch nie erlebt.«
Ich habe mich gewundert, dass Marta und er beschlossen hatten, meinen Dad als ersten Zeugen der Verteidigung aufzurufen, und ich frage ihn danach. »Anna sagt, Angeklagte sagen normalerweise immer als Letzte aus.«
»Richtig. Aber in diesem Fall schien es besser, vom normalen Prozedere abzuweichen.«
»Um Tommy aus dem Tritt zu bringen?« Diese Vermutung hatte Anna geäußert.
»Zugegeben, ich hatte gehofft, Tommy zu überrumpeln, aber das war nicht das eigentliche Ziel.« Stern starrt einen Moment ins Leere und versucht abzuschätzen, wie viel er mir, der ich morgen in den Zeugenstand muss, sagen darf. Im Licht der Tischlampe neben uns scheint der Ausschlag auf seiner rechten Gesichtshälfte heute ein kleines bisschen abgeklungen zu sein. »Offen gestanden, Nat, ich wollte dafür sorgen, dass wir Zeit haben würden, uns zu erholen, falls die Aussage Ihres Vaters in einer Katastrophe geendet hätte.«
In diesem einen Satz steckt eine ganze Menge.
»Heißt das, Sie hätten ihn am liebsten gar nicht als Zeugen aufgerufen?«
In den Pausen, die Stern früher nutzte, um mit seiner Zigarre in der Hand zu denken, streicht er sich jetzt mit einem Finger über die Lippen.
»Im Allgemeinen ist es besser für den Angeklagten, wenn er in den Zeugenstand tritt. Etwa siebzig Prozent aller Freisprüche erfolgen in Fällen, in denen der Angeklagte zu seiner eigenen Verteidigung aussagt. Die Geschworenen wollen hören, was er selbst zu sagen hat, und das gilt besonders in Fällen wie diesem, wo der Angeklagte Jurist ist, sich mit Gerichtsverfahren auskennt und daran gewöhnt ist, in der Öffentlichkeit zu sprechen.«
»Das klingt, als käme jetzt ein >aber<.«
Sandy schmunzelt. Ich spüre deutlich, dass beide Sterns mich wirklich mögen. Sie empfinden natürlich auch Mitgefühl für mich, was zurzeit auf viele Menschen zutrifft. Mom tot. Dad vor Gericht. Ich weiß nicht, von wie vielen Leuten ich schon zu hören gekriegt habe, dass ich diese Phase meines Lebens wohl nie mehr vergessen werde, ohne dass mir auch nur einer einen Tipp gegeben hätte, wie ich sie überstehen soll.
»In einem Indizienfall wie diesem, wo die Beweislage so diffus ist, läuft man Gefahr, dem Anklagevertreter schon im Kreuzverhör die Gelegenheit zum
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