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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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vermutet wurde, dass Ramon als Nächstes das Amt des Regierungspräsidenten anpeilte. Jim würde die kommenden sechs Monate einen harten Wahlkampf führen müssen, aber sein Sieg galt als wahrscheinlich.
    Tommy bemerkte auf der anderen Seite des Spielplatzes einen Mann, der ihn beobachtete. Ein alter Bursche mit buschigem Haar und erschreckend weißen Beinen, die zwischen seinen Cargoshorts und den wadenhohen Stricksocken geradezu leuchteten. Das war nicht ungewöhnlich. Tommy war oft im Fernsehen, und es kam häufig vor, dass Leute überlegten, wo sie ihn hintun sollten, wobei sie ihn gelegentlich mit irgendwem verwechselten, den sie früher mal gekannt hatten. Aber dieser Mann war auffälliger als die üblichen neugierigen Nachbarn mit ihren fragenden Blicken. Als die Kinder, auf die er aufpasste, sich in Tomasos Richtung bewegten, kam der Mann zu Tommy und hatte ihm sogar schon die Hand geschüttelt, ehe Tommy ihn als Milo Gorvetich erkannte, den Computerexperten im Prozess gegen Sabich.
    »Enkelkinder sind doch wirklich die größte Freude, nicht wahr?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf zwei kleine Mädchen, die beide Brillen trugen. Die Mädchen waren auf der Rutsche, und Tomaso, der ihnen folgen wollte, verharrte auf der untersten Sprosse, blickte sehnsüchtig zu ihnen hoch, hatte aber zu viel Angst, weiter hochzuklettern. Dieses Drama spielte sich jeden Tag ab. Tomaso heulte dann irgendwann los, und sein Vater hob ihn bis ganz nach oben. Dort zögerte Tomaso unweigerlich erneut, bis er endlich seinen ganzen Mut zusammennahm und nach unten rutschte, wo Tommy schon wartete, um ihn aufzufangen.
    »Er ist mein Sohn«, sagte Tommy. »Ich hab spät angefangen.«
    »Oje«, antwortete Gorvetich, aber Tommy lachte. Er hatte Dominga schon öfters gesagt, dass er für Tomaso ein T-Shirt machen lassen würde mit der Aufschrift: »Der alte Mann da drüben ist wirklich mein Vater.« Wenn Tommy den anderen Eltern hier erklärte, dass er Tomasos Vater war, hatten sie ihn meistens schon als den Oberstaatsanwalt erkannt. Wie er den anschließenden Kommentaren dann entnehmen konnte, vermuteten viele in ihm einen machtbewussten Erfolgstypen, dessen Kind seiner zweiten oder dritten Ehe mit einer hübschen Vorzeigefrau entstammte. Im Grunde verstand keiner je das Leben der anderen.
    »Ein goldiger Junge«, sagte Gorvetich.
    »Die Wonne meines Lebens«, antwortete Tommy.
    Wie sich herausstellte, wohnte Gorvetichs jüngste Tochter in Tommys Nachbarschaft, nur eine Straße näher am Fluss. Sie war Physikprofessorin und mit einem Ingenieur verheiratet. Der verwitwete Gorvetich passte häufig um diese Zeit auf die Mädchen auf, bis ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kamen.
    »Bereiten Sie sich schon wieder auf den nächsten großen Prozess vor?«, fragte Gorvetich, um ein bisschen zu plaudern.
    »Noch nicht«, sagte Tommy. Normalerweise erfüllte der Oberstaatsanwalt ja nur Verwaltungsaufgaben. Die meisten von Tommys Vorgängern hatten keinen Gerichtssaal mehr von innen gesehen, und Tommy liebäugelte bereits mit dem Gedanken, dass der Fall Rusty Sabich der letzte Prozess seines Lebens gewesen sein könnte.
    »Für Sie war das bestimmt Standardkost«, sagte Gorvetich, »aber ich muss sagen, mir will der Fall immer noch nicht aus dem Kopf. Man sollte eigentlich meinen, dass Gerichtsverfahren eindeutig und überzeugend ausgehen, aber das lässt sich von dem weiß Gott nicht behaupten.«
    Manchmal musste man das so hinnehmen, antwortete Tommy. Die engen Kategorien schuldig oder nicht schuldig wurden einem ganzen Universum von komplizierten Fakten nicht immer gerecht.
    »Besser ein wenig Gerechtigkeit als gar keine«, sagte Tommy.
    »Für einen Außenstehenden ist das verwirrend, aber ihr Profis seid wahrscheinlich an diese Grauzonen derart gewöhnt, dass ihr das Ganze sogar mit einem gewissen bitteren Humor betrachten könnt.«
    »In diesem Fall gab es nicht viel zu lachen, finde ich.«
    »Das unterscheidet Sie dann aber von Brand«, sagte Gorvetich.
    Tommy behielt Tomaso im Auge, der noch immer auf der Leiter stand, obwohl sich hinter ihm schon eine Schlange gebildet hatte. Tommy versuchte, den Jungen von der ersten Sprosse zu ziehen, doch der protestierte lautstark und krähte sein Lieblingswort: »Nein.« Schließlich konnte Tommy seinen Sohn überreden, die anderen Kinder vorzulassen, doch sobald die nach oben geklettert waren, stieg Tomaso wieder auf die unterste Sprosse wie ein Habicht auf seiner Stange. Sein Vater stellte

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