Der letzte Beweis
listiger Blick in seine Augen. Tommy verstand nicht recht, was er dachte, aber Milos Enkelinnen waren auf die andere Seite des Spielplatzes gelaufen, und er verabschiedete sich hastig. Das war auch gut so, denn im selben Moment hörte Tommy einen Schrei, den er sofort als Tomasos erkannte. Als Tommy hochschaute, sah er, dass sein Sohn die Leiter hinaufgeklettert war. Jetzt stand der Zweijährige ganz oben und war zutiefst erschrocken über das, was er da fertiggebracht hatte.
Kapitel 42
Rusty, 5. August 2009
»Das Gefängnis schreckt ihn nicht.« Vor langer Zeit, als ich noch Staatsanwalt war, sagten wir das über viele unserer Kunden. Meistens sprachen wir von hartgesottenen Kriminellen - Betrügern, Gangstern, Einbrechern -, die sich mit Verbrechen sozusagen ihre Brötchen verdienten und bei der Aussicht auf eine Freiheitsstrafe ungerührt blieben, entweder weil sie nie über die Zukunft nachgedacht hatten oder weil ein Zwischenstopp im Knast schon lange Teil ihrer zweifelhaften Berufsplanung war.
Der Satz will mir nicht mehr aus dem Kopf, weil ich mir fast unablässig einrede, dass das Gefängnis gar nicht so schlimm ist. Ich habe gestern überlebt. Ich werde heute überleben, und dann morgen. Die Dinge, von denen man annehmen sollte, dass sie besonders bedrohlich sind - die Furcht vor anderen Häftlingen und die berüchtigten Gefahren der Gemeinschaftsdusche -, nehmen in der Psyche einen gewissen Raum ein, aber sie sind weit weniger bedeutend als anderes, das von außen eher banal schien. Man kann unmöglich ermessen, wie sehr man die Gesellschaft anderer Menschen oder die Wärme des natürlichen Tageslichts genießt, bis man ohne beides auskommen muss. Ebenso wenig kann man gänzlich erfassen, wie kostbar persönliche Freiheit ist, bis Dinge, die normalerweise je nach Tageslaune entschieden wurden - wann man aufsteht, wohin man geht, was man anzieht -, restlos von außen bestimmt werden. So absurd es auch klingen mag, das Schlimmste am Gefängnis ist zugleich auch das Offensichtlichste - man kann nicht raus.
Da meine Sicherheit in der Gemeinschaftshaft als zu gefährdet gilt, werde ich in Verwaltungshaft gehalten, was nichts anderes heißt als Einzelhaft. Immer wieder frage ich mich, ob es mir besser ginge, wenn ich das Risiko der Gemeinschaftshaft auf mich nehmen würde. Dann könnte ich immerhin acht Stunden am Tag arbeiten. Die Häftlinge hier sind überwiegend junge Latinos und Schwarze, Gangmitglieder, die wegen irgendwelcher Drogendelikte einsitzen und kein langes Register von Gewalttaten aufweisen. Ob welche darunter sind, die es auf mich abgesehen hätten, kann man nur spekulieren. Von den Wärtern, die sozusagen das Internet der Strafanstalt sind, habe ich bereits gehört, dass hier zwei Männer einsitzen, deren Verurteilung ich bestätigt habe, und ich kann mir ausrechnen, dass ich vor vielen Jahren wahrscheinlich die Väter oder Großväter von einigen anderen angeklagt habe. Insgesamt schließe ich mich der Ansicht des hiesigen Direktors an, der mir riet, mich freiwillig für Einzelhaft zu entscheiden, weil ich zu berühmt bin, um nicht für irgendeinen hoffnungslosen und wütenden jungen Mann ein Symbol zu sein, ein kapitaler Fisch, den er liebend gern an der Angel hätte.
Also sitze ich in einer fünf Quadratmeter großen Zelle mit Zementwänden, mit einer niedrigen stahlverstärkten Tür, durch die ich meine Mahlzeiten bekomme, und mit einer einsamen Glühbirne. Das Fenster ist fünfzehn Zentimeter breit und sechzig Zentimeter hoch und lässt kaum Licht herein. Hier drin kann ich meine Zeit verbringen, wie ich mag. Ich lese alle zwei Tage ein Buch. Stern hat angedeutet, dass ich nach meiner Entlassung möglicherweise Abnehmer für meine Memoiren finden würde, und so schreibe ich jeden Tag ein bisschen, aber wahrscheinlich werde ich die Blätter verbrennen, sobald ich rauskomme. Die Zeitung kommt per Post mit zwei Tagen Verspätung, und gelegentlich sind Artikel über Strafvollzug herausgeschnitten. Ich habe begonnen, Spanisch zu lernen, und übe mit zwei von den Wärtern, die bereit sind, mir zu antworten. Und wie ein Müßiggänger im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert pflege ich eine umfangreiche Korrespondenz. Ich schreibe Nat jeden Tag einen Brief und höre häufig von einigen Menschen aus meinem früheren Leben, deren Loyalität mir enorm viel bedeutet, insbesondere von George Mason und Ray Horgan und einer meiner Nachbarinnen. Außerdem habe ich im letzten Monat Post von gut
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