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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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damals einen jungen Mann. Einen anständigen jungen Mann. Arm. Er war im trostlosesten Teil von Kehwahnee aufgewachsen und hatte es trotzdem geschafft, sich mit seinen zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal Ärger mit der Polizei eingehandelt zu haben. Was Bände über seinen Charakter spricht. Aber eines Tages war er mit Freunden zusammen im Auto unterwegs, sie tranken ein paar Flaschen Schnaps, und einer von ihnen sah einen Mann, der seine Mutter betrogen hatte, und dieser junge Mann hatte eine Pistole in der Tasche und erschoss den Fremdgeher durchs Autofenster, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen. Mein Mandant hatte nichts mit dem Mord zu tun. Gar nichts. Aber Sie wissen ja, wie so etwas läuft. Der Mörder behauptete, seine Freunde wären bei ihm im Auto gewesen, weil sie ihm helfen wollten, das Opfer zu suchen. Er log, um der Todesstrafe zu entgehen, die damals hier im County schon mal schnell verhängt wurde. Und so wurde mein Mandant wegen Mordes angeklagt. Die Vernunft sagte den Anklagevertretern, dass mein Mandant nichts damit zu tun hatte. Aber sie hatten einen Zeugen. Und sie boten meinem Mandanten eine Bewährungsstrafe an, wenn er sich einer minder schweren Straftat schuldig bekannte. Dieser junge Mann wollte Polizist werden. Und er wäre ein sehr guter Polizist geworden. Aber er bekannte sich schuldig. Und sein Leben nahm eine völlig andere Richtung. Aber seine Entscheidung war offensichtlich richtig. Er wurde Fliesenleger, hat heute eine eigene Firma, drei Kinder, die alle studiert haben. Ein Sohn von ihm ist Anwalt, nur wenig älter als Sie.«
    »Was wollen Sie damit sagen, Sandy?«
    »Dass ich gelernt habe, in solchen Fragen dem Urteil meiner Mandanten zu vertrauen. In einer solchen Situation ist niemand besser in der Lage, die Vorteile und Risiken einzuschätzen.«
    »Dann glauben Sie nicht, dass er schuldig ist?«
    »Ich weiß es nicht, Nat. Aber er beharrt darauf, dass es so am besten ist.«
    »Ich muss meinen Vater sehen.«
    Ich vermute, dass er zusammen mit Marta ein paar Zimmer weiter im Zeugenraum ist, und Stern will mit ihm sprechen, ehe ich das tue. Ich helfe Sandy auf die Beine. Ich bin nur wenige Minuten allein, aber als mein Vater hereinkommt, habe ich bereits angefangen zu weinen. Das Überraschende ist, dass er heute Morgen besser aussieht als seit Monaten. Er wirkt wieder so, als hätte er alles im Griff.
    »Sag mir die Wahrheit«, sage ich, sobald ich ihn sehe. Prompt muss er lächeln. Er beugt sich vor, um mich zu umarmen, und setzt sich dann in den Sessel, in dem Stern gesessen hat.
    »Die Wahrheit ist«, sagt er, »dass ich deine Mutter nicht getötet habe. Ich habe nie jemanden getötet. Aber ich habe die Justiz behindert.«
    »Wie denn? Ich glaube nicht, dass du das mit dem Computer hinbekommen hättest. Ich glaub's einfach nicht.«
    »Nat, ich bin groß. Ich weiß, was ich getan habe.«
    »Du verlierst alles«, sage ich.
    »Nicht meinen Sohn, hoffe ich.«
    »Wovon willst du hinterher leben? Du gestehst eine Straftat, Dad.«
    »Dessen bin ich mir bewusst.«
    »Du verlierst deine Stelle als Richter, deine Zulassung als Anwalt, sogar deine Pensionsansprüche.«
    »Ich werde versuchen, dir nicht zur Last zu fallen.« Er lächelt wieder. »Nat, es ist ein Kompromiss. Ich bekenne mich einer Tat schuldig, die ich begangen habe, und sitze die Strafe ab, um nicht Gefahr zu laufen, für etwas verurteilt zu werden, dessen ich völlig unschuldig bin. Ist doch gar nicht so schlecht, oder? Sobald Richter Yee entschieden hat, ob die Computerbeweise zugelassen werden oder nicht, wird eine Partei die Oberhand haben, und dann ist diese Lösung nicht mehr möglich. Es wird Zeit, dass wir das Ganze hinter uns bringen und endlich wieder nach vorne schauen. Du musst mir die vielen Dummheiten verzeihen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe. Aber ich habe sie gemacht, und es ist nicht falsch, dass ich dafür bezahle. Ich kann mit diesem Ergebnis leben, und du solltest das auch können.«
    Wir stehen gleichzeitig auf, und ich umarme meinen Vater, haltlos schluchzend. Als wir uns wieder voneinander lösen, laufen auch dem Mann, der nie weint, Tränen übers Gesicht.
     
    Die Verhandlung wird in wenigen Minuten beginnen. Irgendwie hat sich im Gericht rumgesprochen, was passieren wird, und die Freizeitjuristen und Staatsanwälte strömen gleichzeitig mit mindestens einem Dutzend Journalisten in den Saal. Ich bringe es zunächst nicht über mich, hineinzugehen. Ich bleibe an der Tür

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