Der letzte Beweis
—«
»Ich dachte, das wäre erst morgens gewesen, kurz vor Verhandlungsbeginn?«
»Nee, von Mitternacht bis acht Uhr früh.« Orestes legte den Daumen auf einen der bunten Streifen in seinem Hemd. »Morgens muss ich zur Uni. Studieren. Was aus mir machen.« Orestes trommelte einen flotten Wirbel auf dem nächstbesten Karton, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich bin also rauf in Brands Büro, weil der PC auf dem Prozesswagen stand, und dann haben wir zusammen die Folie entfernt, was ewig gedauert hat, weil da mindestens drei oder vier Schichten drum waren. Und als ich endlich an das Ding rankomme und mal genauer hinsehe, denk ich: Scheiße, das ist ja wohl voll daneben.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen, das Sicherheitssiegelband am Tower ging über den Einschaltknopf, klar. Aber der Einschaltknopf ist versenkt, also ins Gehäuse eingelassen. Deshalb war da so ein ganz kleines bisschen Luft unter dem Band, und ich sag so zu Brand: >Du Schande, wir haben Mist gebaut, die Kiste könnte man hochfahren. < Darauf er so: >Niemals<, und da hab ich eins von meinen Werkzeugen genommen -« Aus der Brusttasche fischte Orestes einen winzigen Schraubenzieher, so klein, dass man damit die Schräubchen einer Brille nachziehen konnte. »Und hab's einfach unter das Band geschoben. Und Brand, also ehrlich, ich meine, der Typ ist okay, aber der hätte mich fast erwürgt. Der dachte, ich würde das Band beschädigen. Das war der Tag, an dem die chiquita aus der Bank ausgesagt hat, und Brand meinte bloß: >Lass den Quatsch, wir haben schon genug Probleme.< Ich hab nix gemacht. Ihn nur erschreckt. Gorvetich hat das ganze Sicherheitssiegelband ja dann am Morgen abgemacht, null Problemo.
Aber ich mein ja nur. Wenn ich was mit dem Computer hätte machen wollen, dann hätte ich's da gemacht.«
»Sie hätten den Computer also einschalten können?«
»Hab ich aber nicht.«
»Weiß ich doch, Orestes. Aber hätten Sie es gekonnt? Die anderen Teile, die Tastatur und der Monitor waren doch noch versiegelt, nicht wahr?«
»Total, Mann. Aber die Ports am Tower waren nicht zugeklebt. Da hätte man einfach eine Maus oder einen Monitor anschließen können, alles, was kompatibel ist. Davon gibt's jede Menge. Deshalb hab ich mich ja auch so darüber aufgeregt. Aber passiert ist nix. Das war alles monatelang eingeschweißt gewesen. Alles noch mit Prüfinitialen und so, aber ich mein bloß, wo Sie mich schon fragen, so hätt ich's machen können. Hab ich aber nicht, und Sabich und die anderen, die haben's gemacht. Aber wie genau, keine Ahnung. Regel Nummer eins, Mann. Was du nicht weißt, weißt du nicht. Du weißt es einfach nicht.«
Orestes grinste breit unter dem leichten Flaum, der als Schnurrbart herhalten musste. Er war ein richtig schlauer Bursche, dachte Tommy erneut. Und im Laufe der Jahre würde er schon noch dahinterkommen, was er nicht wusste.
Brand war den Vormittag im Büro und sortierte Akten auf seinem Schreibtisch, als Tommy gegen elf von der Besprechung im Berufungsgericht zurückkam. Die Besprechung hatte im Wesentlichen dasselbe ergeben wie die Besprechung gestern im Gefängnis. Keiner hatte genug Geld. Wo konnte gespart werden?
Brand hatte gestern einen Tag freigenommen, um sich mit politischen Beratern zu treffen. Sein Gegner Berrojas hatte den Vorteil, auf eine bestehende Organisation zurückgreifen zu können. Brand würde viel Hilfe von der Partei bekommen, aber er musste auch ein eigenes Team aufstellen.
Molto fragte, was er von den Beratern hielt.
»Die beiden Frauen haben mir imponiert. O'Bannon und Meyers? Ziemlich clever. Aber rate mal, was ihr letzter Wahlkampf war?«
»Sabich.«
»Genau.« Brand lachte. »So was nennt man wohl Auftragskiller.«
»Ich hab ihn übrigens gestern gesehen.«
»Wen?«
»Rusty.«
Brand hatte weiter Stapel auf seinem Schreibtisch hin und her geschoben, aber jetzt verharrte er. Der Prozesswagen vom Fall Sabich stand noch immer in einer Ecke des Büros, mit Jims und Tommys Prozessakten und den Beweisstücken, die Richter Yee ihnen nach Abschluss des Verfahrens wieder ausgehändigt hatte. Während eines Prozesses kümmerte man sich um nichts anderes auf der Welt - Familienfeste, Nachrichten, andere Fälle, alles wurde ignoriert -, und sobald der Prozess zu Ende war, wurde all das, was man links liegen gelassen hatte, dringender als so etwas Banales wie Aufräumen. Bei der Hälfte der Staatsanwälte stapelten sich Kisten mit Prozessakten, die nach einer
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