Der letzte Beweis
Urteilsverkündung monatelang unangerührt stehen blieben. Wenn man dann endlich die Zeit fand, das Zeug wegzuräumen, war das so schmerzlich, als würde man sich noch einmal Erinnerungsstücke an eine vergangene Liebe ansehen, und die Unterlagen und Tablettenfläschchen, die einem einst so bedeutsam erschienen wie Splitter des Heiligen Kreuzes, waren jetzt im Alltagstrott vollkommen unerheblich. Schon in wenigen Monaten würde Tommy nicht mehr sagen können, wie die einzelnen Gegenstände in das komplizierte Labyrinth von Rückschlüssen und Folgerungen gepasst hatten, aus dem die Anklage bestanden hatte. Jetzt war nur noch das Ergebnis von Bedeutung. Rusty Sabich saß als verurteilter Straftäter im Gefängnis.
»Ich war draußen in Morrisroe«, sagte Tommy. Er berichtete Brand von der Besprechung. Die Freilassung von Häftlingen würde ein Wahlkampfthema werden, sobald die Presse davon erfuhr, aber Brand interessierte sich mehr für Sabich.
»Du bist einfach zu ihm rein? Ohne Anwalt, ohne alles?«
»Ein bisschen wie alte Bekannte«, sagte Tommy. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Sabich sich weigern könnte, mit ihm zu sprechen. Und Sabich offenbar auch nicht. Sie waren beide zu sehr in ihre langjährige Rivalität verstrickt, um noch jemand anderen dabeihaben zu wollen. Es war wie ein Streit mit der Exfrau.
»Wie sah er aus?«, fragte Brand.
»Besser, als ich gedacht hatte.«
»Mist«, sagte Brand.
»Ich wollte ihn unter vier Augen fragen, wie er das mit dem Computer hingekriegt hat.«
»Schon wieder?«
»Er hat nicht geantwortet. Ich glaube, er schützt seinen Sohn.«
»So was Ähnliches hab ich mir auch schon gedacht.«
»Ich weiß. Neulich bin ich zufällig Gorvetich begegnet. Er hat erzählt, dass ihr beide letzten Monat einen über den Durst getrunken habt und dass du gesagt hast, deiner Meinung nach habe Rusty sich für etwas schuldig bekannt, das er nicht getan hat. Zuerst konnte ich mir nicht erklären, was du damit gemeint haben könntest. Und dann wurde mir klar, dass du denkst, er deckt seinen Sohn.«
Brand zuckte die Achseln. »Wer weiß, was ich gedacht habe? Ich war ziemlich voll. Und Milo auch.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht, was dich auf die Idee gebracht hat, dass Rusty seinen Sohn schont.«
Brand verzog den Mund und starrte nach unten auf seinen Schreibtisch. Die Aktenstapel waren militärisch akkurat aufgebaut, die Kanten gerade und die Zwischenabstände regelmäßig wie Betten in einer Kaserne. Er nahm ein paar Ordner und blickte sich suchend um - wohin damit?
»Nur so ein Gefühl«, sagte er.
»Aber wieso?«
Brand legte die Ordner auf einer freien Ecke des Schreibtischs ab, wo sie offensichtlich nicht hingehörten.
»Ist doch egal, oder? Rusty ist im Kittchen. Wo er hingehört. Zumindest eine Zeitlang. Wovor hast du Angst?«
Angst. Das war das richtige Wort. Tommy war um drei Uhr nachts wach geworden, und seitdem war er die meiste Zeit richtig verängstigt. Er hätte sich gern gesagt, dass er sich nur mal wieder selbst quälte, dass er unfähig oder Unwillens war, seinen eigenen Erfolg anzunehmen. Aber er wusste, er würde der Sache auf den Grund gehen müssen, wenn er sich selbst noch im Spiegel anschauen wollte.
»Wovor ich Angst habe, Jimmy, ist, dass du wusstest, dass Rusty diese Karte nicht auf den Computer gespielt hat.«
Brand sank endlich in seinen Schreibtischsessel. »Wie kommst denn da drauf, Tom?«
»Ich hab in den letzten zwei Tagen viele Puzzleteilchen zusammengesetzt. Das, was du zu Gorvetich gesagt hast. Die Tatsache, dass du die ganze Nacht hier warst, nachdem die Folie vom Computer entfernt worden war. Und dass Orestes dir gezeigt hatte, wie er eingeschaltet werden konnte, ohne das Sicherheitssiegelband zu entfernen. Das war, nachdem die Frau von der Bank ausgesagt hatte und es auf einmal so aussah, als würde unsere Anklage den Bach runtergehen. Und du verstehst was von Computern. Du hast bei Gorvetich programmieren gelernt. Also muss ich dich jetzt fragen, Jim, ja? Wir haben nämlich sonst immer noch keine Erklärung dafür. Hast du die Karte erstellt?«
»Wie soll ich das denn gemacht haben?«, fragte Brand entwaffnend ruhig. »Wenn ich den Computer eingeschaltet und irgendwas damit gemacht hätte, dann hätte das Programmverzeichnis doch registriert, dass es geöffnet worden war. Weißt du nicht mehr?«
»Doch, doch. Bloß, der PC sollte am nächsten Morgen im Gericht eingeschaltet werden, und dann würde das Programmverzeichnis
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