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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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Rusty und ihr zu einer katastrophalen Szene gekommen sein musste.
    Dennoch konnte ich mich nie dazu überwinden, Mord für möglich zu halten. Meine Zeit mit Rusty liegt weit hinter mir. Aber in jenen wenigen Monaten mit ihm habe ich genug von seinem innersten Wesen gesehen, um sicher zu sein, dass er kein Mörder ist.
    »Manchmal«, antwortet er jetzt.
    »Hast du deshalb gedacht, ich hätte mich an deinem Computer zu schaffen gemacht? Ich meine, Tommy hat doch recht, oder? Du hast etwas gestanden, das du nicht getan hast.« Ich habe schon vorher daran gedacht, aber das Gespräch mit Stern auf der Fahrt hierher hat mich in meiner Vermutung bestätigt.
    »Ich wusste nicht, was ich denken soll, Anna. Ich wusste, dass ich es nicht getan hatte. Ich habe diesen sogenannten Experten nie so ganz getraut, aber sie haben steif und fest behauptet, der Computer wäre komplett versiegelt gewesen, als er ins Gericht gebracht wurde, womit es unmöglich jemand von der Staatsanwaltschaft gewesen sein konnte - was übrigens die einzige Erklärung ist. Meinst du nicht? Tommy kann der Öffentlichkeit erzählen, was er will. Er weiß, dass irgendjemand, der für ihn arbeitet, den Computer trotz Versiegelung gestartet haben muss und die Karte auf den Computer gespielt hat, um uns auszutricksen.«
    Dieser Punkt war mir bis zu dem Moment, wo er es ausspricht, nicht richtig klar, aber ich begreife, dass er recht hat. Ich habe nie vergessen, dass Molto damals vorschriftswidrig mit Beweismitteln umgegangen ist, und ich schäme mich ein bisschen, nicht schon früher daran gedacht zu haben. Wir werden nie erfahren, was den Sinneswandel des Oberstaatsanwalts zu diesem Zeitpunkt ausgelöst hat. Wahrscheinlich die Angst davor, entlarvt zu werden.
    »Wie dem auch sei«, sagt er, »im Juni dachte ich noch, die Einzigen, die es getan haben könnten, wären Nat oder du. Oder ihr beide zusammen. Auf diese Möglichkeit sind die Experten nie gekommen, dass ihr beide es zusammen gemacht haben könntet. Und deshalb sollte die ganze Untersuchung auf gar keinen Fall so lange weitergehen, bis Tommy und Gorvetich schließlich auf den Gedanken gekommen wären.
    Aber ich habe mir nie richtig erklären können, warum Nat oder du so etwas hätten tun sollen. Mir sind tausend Sachen durch den Kopf gegangen. Die immer nur ganz kurz Sinn ergaben. Ein Gedanke war zum Beispiel, du würdest mich für schuldig halten und wolltest mich raushauen, weil du dir eine Mitschuld daran gabst, dass ich Barbara getötet habe. Weil du dachtest, ich hätte es getan, um dich zurückzubekommen.«
    Ich schiebe die letzten Beeren in eine Schüssel und vermeide es einen Moment lang, ihn anzusehen. Der schlimmste Augenblick, den ich in den letzten zwei Jahren hatte, war der, als diese Empfangsmitteilungen auf meinem Computer erschienen, und der zweitschlimmste war der, als Nat mich vom Gericht aus anrief, um mir zu sagen: »Sie wusste es. Meine Mom wusste es.« Die Frau von der Bank hatte gerade ausgesagt, und Nat war wie so oft rausgegangen, um zu weinen. Ich finde es wunderbar, dass er weint. Im letzten Jahr ist mir klar geworden, dass ich mein ganzes Leben lang auf einen Mann gewartet habe, der - anders als die große Heuchlerin, die ich zur Mutter habe - niemals so tut, als wäre er dem Schmerz des Lebens gegenüber immun.
    »Wusste was?«, fragte ich. »Was wusste sie?« Nach allem, was sich im Prozess herausstellte, weiß ich, dass Barbara an dem Abend vor ihrem Tod Nat zuliebe Theater spielte, aber sie war damals wirklich überzeugend, und es gab im vergangenen Jahr Augenblicke, in denen ich mich der schwachen Hoffnung hingab, dass die Empfangsmitteilungen durch irgendwas anderes ausgelöst worden waren - vielleicht durch das Schredder-Programm auf Rustys PC -, und dass Barbara ahnungslos gestorben war. Nun stürzte ich in tiefste Verzweiflung. Ich hatte mich schon so oft mit Schuld- und Angstgefühlen herumgeschlagen, und ich konnte mir kaum vorstellen, dass diese Erkenntnis mich noch schärfer oder tiefer treffen konnte, doch in jenem Moment fühlte ich mich, als würde ich bei lebendigem Leibe seziert. Im Allgemeinen ist es mir mein ganzes Leben lang gelungen, eine Fassade aufrechtzuerhalten, vor allem, wenn ich leide. Aber manchmal bin ich wie gelähmt angesichts meiner Unfähigkeit, mich selbst zu verstehen. Warum habe ich Rusty je gewollt? Und warum war mir Barbara so vollkommen egal — eine Frage, die mir heute wie das größte Mysterium von allen erscheint. In den letzten

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